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Kinder in der Kita

© epd

Kindliche Entwicklung: Sie suchen Bindung und Behagen

Kinder entdecken Körper und Gefühle allmählich. Mit erwachsener Sexualität hat das nichts zu tun. Scham dient den Kindern schon früh zum Schutz ihrer Privatspähre.

Am Anfang steht die Geborgenheit an der Brust der Mutter und auf dem Arm des Vaters, das Vergnügen, auf der Wickelkommode den leichten Luftzug um die nackten Beinchen zu fühlen. Später, in den Kitajahren, kommt vielleicht das unbefangene, noch ganz ungenierte Stillen der Neugier auf den Körper beim gegenseitigen Eincremen und bei „Doktorspielen“ hinzu. Kurz danach folgt aber schon die Scheu, sich nackt zu zeigen. Und in der dritten Klasse sitzt man dann vielleicht neben dem Mädchen, in das man sich so unsterblich verliebt, dass man es unbedingt einmal heiraten will: frühe Etappen einer „Education sentimentale“, die Körper, Seele und Geist gleichermaßen umfasst.

Doch ist das alles schon „sexuell“? Wo es doch keinen Zweifel gibt, dass erst ein paar Jahre später, mit der Pubertät, große biologische Veränderungen und ziemlich neue Verwirrungen des Gefühls hinzutreten werden?

Ob es so etwas wie „kindliche Sexualität“ gibt, haben viele sich in den letzten Jahren im Kontext der Missbrauchsdebatte, zuletzt auch beim Thema antiautoritäre Kinderläden der 70er Jahre, gefragt. Uwe Sielert, Professor an der Universität Kiel und Vorsitzender der Gesellschaft für Sexualpädagogik, ist überzeugt: „Wir sind von Anfang an sexuelle Wesen.“ Worauf er damit abzielt, das ist etwas Umfassendes, „eine Lebensenergie, die sich auf den Körper bezieht und aus ihm gespeist wird“. Von erster Nähe zu den Eltern über die Entdeckung des eigenen Körpers bis zum „Hauthunger“, der auch im hohen Alter nicht weniger wird. „Nur wenn man sie eng definiert, beginnt Sexualität mit der Pubertät.“

Was eine solche enge Definition nahelegt, ist zunächst allerdings der Begriff selbst: „Sexus“ ist schließlich der lateinische Begriff für das biologische Geschlecht.

Klaus Beier, Direktor des Instituts für Sexualwissenschaft und Sexualmedizin der Charité, nennt Sexualität und Beziehung in einem Atemzug. Der Atemzug ist aber lang, und er umfasst mit gleicher Selbstverständlichkeit zwei andere Dimensionen der Sexualität: Lust und Fortpflanzung. „Wir wissen inzwischen sehr viel über die neurobiologischen Grundlagen dieser drei Dimensionen.“ Allesamt werden sie von Erfahrungen gespeist, die von Anfang des Lebens an gesammelt werden. Zusammen erfüllen sie das Bedürfnis nach körperlichem Behagen und nach sicherer Bindung. Für den Mediziner und Philosophen ist daher klar: „Wir haben allen Anlass, Sexualität als biopsychosoziales Phänomen zu betrachten – auch wenn es den meisten schwerfällt, alle diese Ebenen gleichzeitig zu sehen.“

Sprache und Motorik sind gut erforscht, die Gefühlswelt kaum

Darüber, wie dieses lebenswichtige Phänomen die Kindheit durchzieht und seine erwachsene Gestalt annimmt, gibt es – abgesehen von den Etappen der körperlichen Pubertät (siehe Kasten) – kaum Forschung. Im Gegensatz zu anderen Bereichen der kindlichen Entwicklung, wie Sprache oder Motorik, habe man hier keine klaren Konzepte, bedauert die Entwicklungspsychologin Bettina Schuhrke, Professorin an der Evangelischen Hochschule Darmstadt. „Wir haben eben das Problem, dass es hier keinen Stolz der Eltern auf Fortschritte des Kindes gibt, einmal abgesehen vielleicht von seinem biologischen Wissen als Teil der als notwendig erachteten Aufklärung.“

Mit dem „Child Sexual Behavior Inventory“, das der amerikanische Psychologe William Friedrich in den 90er Jahren entwickelte, lässt sich immerhin in Ansätzen so etwas wie „normale“ Entwicklung erfassen: Wie häufig Kinder ab zwei Jahren sich nackt zeigen, Interesse am Körper von Kindern des anderen Geschlechts erkennen lassen oder die Brust von Mutter oder Erzieherin berühren.

"Die Scham ist ein Fortschritt der Entwicklung"

Dass sich selbst zwischen westlichen Industrienationen wie den USA und den Niederlanden in Studien schon Unterschiede zeigen, spricht für starke kulturelle Einflüsse. Drei Phasen der Entwicklung kann man trotzdem länderübergreifend unterscheiden. Die der großen Unbefangenheit dauert etwa bis zum sechsten Lebensjahr. „Dann fallen die beobachtbaren sexuellen Verhaltensweisen stark ab“, sagt Schuhrke, die unter anderem über körperliche Schamgefühle bei Kindern geforscht hat. „Die Scham ist ein Fortschritt in der Entwicklung, sie dient den Kindern zum Schutz der Privatsphäre.“

Die dritte Phase wird durch den Beginn der Pubertät und die hormonellen Veränderungen eingeleitet. „Wir gehen heute aber nicht mehr davon aus, dass sie den ganz großen Sprung bedeutet, in der Entwicklung wird vorher in kleinen Schritten schon vieles erworben, was den Umgang mit dem Sexuellen, unsere ,sexuellen Skripte’, nachhaltig beeinflusst“, sagt Schuhrke. Dabei dürfe man auch nicht übersehen, dass schon kleine Kinder im Genitalbereich erregbar seien.

Mit dem Begriff „sexuell“ möchte die Entwicklungspsychologin trotzdem vorsichtig sein, wenn es um Kinder geht. „Es ist ein Begriff aus der Erwachsenensprache, und wir sollten uns bewusst sein, dass wir ihn von hier auf die Kinder übertragen, die im Regelfall noch kein dranghaftes, zielgerichtetes sexuelles Verhalten in Bezug auf ein Gegenüber kennen, wie es sich im Jugendalter herausbildet.“

Nicht allein für die Fortpflanzung, sondern auch für die Lust bedeutet die Pubertät einen deutlichen Einschnitt, wie der Sexualmediziner Klaus Beier betont. „In der Pubertät bildet sich die sexuelle Präferenzstruktur heraus, es legt sich fest, welches Geschlecht, welche Altersgruppe und welche sexuellen Praktiken wir bevorzugen.“ Worauf das Gehirn dann festgelegt werde, „das hat keiner in der Hand und kann es sich nicht aussuchen“. Was das Verhalten betrifft, so sieht es aber anders aus: Deshalb bietet die Charité ein Präventionsprogramm für Menschen mit pädophilen Neigungen an.

Erst spät kann von sexueller Selbstbestimmung die Rede sein

Auch wenn die Forscher heute eher einen „weiten“ Begriff von Sexualität bevorzugen, der schon die kindliche Anschmiegsamkeit einbezieht: Alle sind sich einig, dass ein Kind etwas anderes sucht als ein pädophiler Erwachsener. „Das Kind ist noch völlig auf der Bindungsebene, es hat das Bedürfnis, geliebt zu werden, und nur so ist es zu erklären, wenn es im Einzelfall die körperliche Nähe zum Täter sogar selbst sucht“, sagt Beier.

Frühestens mit 15 bis 16 Jahren ist der Vorgang abgeschlossen, den Mediziner und Psychologen als „psychosomatosexuelle Reifung“ bezeichnen. „Vorher ist da noch ein großes Durcheinander. Dass die Jugendlichen sich heute schneller entwickeln, ist nur eine Schutzbehauptung pädophiler Täter“, sagt Sielert. Erst nach der körperlichen Reifung beginnen die Zentren des Stirnhirns aufzuholen, die für das kritische Denken zuständig sind und die der körperlichen Entwicklung notorisch nachhinken. „Erst dann kann von sexueller Selbstbestimmung die Rede sein“, sagt Beier. Die ist auf jeden Fall etwas „Erwachsenes“, und sie findet im Kopf statt.

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