zum Hauptinhalt

Krebs: Zu viel versprochen

Die meisten Europäer überschätzen den Nutzen der Früherkennung. Vor allem die Deutschen. Nicht nur Patienten, auch Ärzte sind schlecht informiert.

Es scheint eine einfache Frage: Wenn ich als Frau jedes Jahr zu einer Brustkrebsuntersuchung gehe, wie viel geringer ist dann mein Risiko, an der Krankheit zu sterben? 20 Prozent ist die Antwort, die man in vielen Prospekten nachlesen kann. Aber was das konkret bedeutet, wissen die wenigsten: Von 1000 Frauen, die nicht zum Brustkrebsscreening gehen, sterben in einem Zeitraum von zehn Jahren etwa fünf an Brustkrebs. Lassen die Frauen jährlich eine Mammografie machen, verringert sich die Zahl auf vier. 20 Prozent bedeutet in diesem Fall also eine von tausend.

„Eine mündige Patientin, die sich überlegt, ob sie zur Früherkennung geht, sollte diese Zahl kennen“, sagt Gerd Gigerenzer vom Harding-Zentrum für Risikokompetenz. Schließlich gelte es, den Nutzen gegen Risiken abzuwägen. Der Statistiker verweist auf Studien, wonach 50 bis 200 der untersuchten Frauen im Laufe der zehn Jahre fälschlicherweise ein positives Ergebnis bekommen. Zwischen zwei und zehn von ihnen werden unnötigerweise behandelt oder sogar operiert. Insgesamt sterben außerdem genauso viele Frauen in der Gruppe, die zur Früherkennung geht, wie in der anderen. Woran das genau liegt, wisse man nicht, sagt Gigerenzer. Möglicherweise sterbe für die eine Frau, die den Brustkrebs überlebt, dann eine andere Frau als Folge ihrer Behandlung. So könnte etwa eine Operation wegen eines Blutgerinnsels tödlich enden.

Aber wie viele Menschen wissen das eigentlich? Gerd Gigerenzer hat zusammen mit der Gesellschaft für Konsumforschung in neun europäischen Ländern nachgeforscht. Dafür befragten die Wissenschaftler mehr als 10 000 Bürger aus Deutschland und acht anderen europäischen Ländern. Das Ergebnis, das der Studienleiter am gestrigen Dienstag auf einer Pressekonferenz in Berlin vorstellte, ist erschreckend: 65 Prozent aller befragten Frauen überschätzen den Nutzen einer Mammografie, 31 Prozent konnten gar keine Angaben dazu machen. In Deutschland etwa wussten von 1000 befragten Frauen nur acht, dass Früherkennung die Brustkrebssterblichkeit um etwa eine von je 1000 Frauen reduziert. Damit sind deutsche Frauen am schlechtesten informiert.

Bei den Männern sieht es nicht besser aus. 59 Prozent der Befragten überschätzten den Nutzen einer Früherkennung von Prostatakrebs mindestens um den Faktor zehn. Es gibt zwar viel weniger Untersuchungen als zu Brustkrebs. Aber eine europäische Studie hat errechnet, dass mit Vorsorgeuntersuchung 3 von 1000 Männern an Prostatakrebs sterben. Ohne Untersuchung seien es 3,7, also knapp einer mehr. Eine amerikanische Studie konnte gar keinen Unterschied zwischen den beiden Gruppen feststellen. Falsche Testergebnisse und unnötige Behandlungen kommen auch hier häufig vor.

„Die Wahrnehmung als Arzt ist natürlich anders. Da sieht man ständig Menschen, die nicht zur Früherkennung gegangen sind und dann an Prostatakrebs sterben“, sagt Manfred Wirth, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Urologie. Die meisten Patienten würden aber tatsächlich überschätzen, was die Früherkennung leisten könne. „Ich halte sie für sinnvoll, aber den Patienten sollte klar gesagt werden, wie groß der Nutzen wirklich ist“, sagt Wirth. Menschen, die einer Risikogruppe angehören, sollten sich aber in jedem Fall untersuchen lassen.

Gigerenzer sieht ein grundsätzliches Problem: „Es wird immer wichtiger, dass Menschen sich in einer Welt mit Risiken zurechtfinden.“ Den Patienten werde aber meist nur gesagt, was sie tun sollten. In Beratungsbögen zur Brustkrebsfrüherkennung werde häufig nur die verheißungsvolle Zahl 20 Prozent genannt. Die absoluten Zahlen müssten aber ebenfalls vorkommen, fordert der Institutsleiter. Außerdem müsse man Schülern viel mehr statistisches Denken beibringen. „Die Kinder müssen die Mathematik der Unsicherheit verstehen.“ Nur so könne man das Ziel eines mündigen Patienten, der für sich selbst entscheidet, erreichen.

Auch in England schwelt die Debatte. Im Februar veröffentlichte die „ Times“ einen Brief, in dem 23 Mediziner dem nationalen Gesundheitsdienst NHS vorwarfen, in Informationsblättern die Risiken der Krebsfrüherkennung zu verschweigen und „nicht annähernd die Wahrheit zu erzählen“. Nun sollen die Prospekte überarbeitet werden.

Aber nicht nur die Patienten sind schlecht informiert, auch die Ärzte. „Wenn Sie wüssten, was Ihr Arzt alles nicht weiß, wären Sie sehr beunruhigt“, sagt Gigerenzer. In der Studie, die am 2. September im Fachblatt „Journal of the National Cancer Institute“ erscheinen soll, haben die Wissenschaftler auch untersucht, wo die Menschen sich zur Gesundheit informieren. In Deutschland stehen Ärzte und Apotheker an erster Stelle. Die Menschen, die angaben, sich bevorzugt dort zu informieren, wussten aber nicht besser Bescheid, sondern überschätzten den Nutzen einer Krebsfrüherkennung sogar noch häufiger. Gigerenzer verwundert das nicht: „Die Ärzte sind nicht dazu ausgebildet, ihre eigenen Tests zu verstehen.“ Ärzte sollten Experten im statistischen Denken sein, fordert er. Leider sehe die Realität anders aus.

Würde er also von einer Krebsfrüherkennung abraten? Nein, sagt Gigerenzer. Es gehe nicht darum, Menschen jetzt zu sagen: „Geht nicht zum Screening.“ Es gehe darum, zu informieren. Dass das letztlich aber dazu führen könnte, dass die Krebsfrüherkennung zusammenbricht, gibt Gigerenzer zu. „Das kann durchaus sein“, sagt er. „Aber es kann ja nicht darum gehen, ein Programm aufrechtzuerhalten, dessen Nutzen klein ist und dessen Nebenwirkungen bewiesen sind. Wir müssen unsere knappen Ressourcen sinnvoll einsetzen.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false