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Formbar. Über die Kunst ergeben sich Gespräche über Krankheit und Krise. Im Bild Häftlinge und ihre Kunsttherapeutin in der JVA Bremen-Oslebshausen.

© ddp

Kunsttherapie: Die siebte Blume bin ich

Bilder für die Seele: Wie Kunsttherapie psychisch Kranken, verhaltensauffälligen Kindern oder Häftlingen helfen kann. In Berlin gibt es inzwischen einen Studiengang, an dem junge Kunsttherapeuten ausgebildet werden.

Fünfzig Jahre lang hatte sie in einem kleinen fränkischen Dorf gelebt, hatte fleißig gearbeitet, da hört die Bäuerin plötzlich Stimmen. Sie tobt herum und schreit. 1907 wird Barbara Suckfüll in eine Irrenanstalt eingewiesen. Dort verlangt sie nach Papier und zeichnet die Konturen ihres Tellers und des Essens ab. Dazwischen schreibt die Frau jene Sätze, die ihr die Stimmen diktieren. Es fließe nur so aus ihr heraus, steht in ihrer Krankenakte. Dabei entstehen feine, reizvolle, spannungsgeladene Kompositionen. Doch ist das Kunst?

Hans Prinzhorn sah darin eine „Eruption des Unbewussten“. 1919 kam der Arzt und Kunsthistoriker als Assistent an die Psychiatrische Klinik der Universität Heidelberg. Er war beauftragt worden, eine Kollektion künstlerischer Arbeiten von Psychiatriepatienten zu erstellen. Sie gilt als bedeutendste weltweit. Heute umfasst die Prinzhorn-Sammlung rund 5000 Arbeiten von etwa 450 Patienten, darunter auch die Werke der Bäuerin Barbara Suckfüll. Prinzhorns Anliegen war ungewöhnlich zu der damaligen Zeit, in der Anstaltsinsassen zwar malen durften, damit sie beschäftigt waren, die Bilder später aber weggeworfen wurden. Gleichwohl vermied Prinzhorn selbst den Begriff „Kunst“. Unter dem Titel „Bildnerei der Geisteskranken“ brachte er 1922 ein Buch heraus, in dem er „zehn schizophrene Meister“ vorstellte.

Bei Kollegen rief Prinzhorn damit nur Unverständnis hervor, die modernen Maler hingegen waren begeistert. Dabei sah Prinzhorn in den Bildern „die echtere Kunst als die der zeitgenössischen Expressionisten“, sagte der Leiter der Sammlung, Thomas Röcke, kürzlich bei einem Berliner Symposium anlässlich des zehnjährigen Bestehens des Kunsttherapie-Studiengangs an der Hochschule Weißensee.

Kunsthistoriker, Psychoanalytiker und Therapeuten diskutierten „Über das Bedürfnis des Menschen, Kunst zu schaffen“. Woher also kommt die Motivation zum Malen und zum Bildhauern? Sigmund Freud glaubte, Kunst zu produzieren, sei eine Umwandlung von Triebwünschen. Der Kunsthistoriker und -theoretiker Gottfried Boehm von der Universität Basel stellte die Theorie in den Raum, dass Künstler mit ihrer Kunst etwas mobilisieren, das er die „Unbestimmheit“ nennt. Also etwas, dass man nicht mit Worten fassen kann. Michael Buchholz, Psychoanalytiker an der Universität Göttingen, sprach in diesem Zusammenhang von der „Ahnung der Welt“.

Schon Höhlenmalereien zeigen den Sinn des Homo Sapiens für Ästhetik. Bis heute rätseln Biologen und Anthropologen über deren Bedeutung. War es reine Kunst um der Kunst willen? Wahrscheinlich nicht. Häufig wurden ältere Zeichnungen übermalt. Einige Wissenschaftler gehen deshalb davon aus, dass es dem Homo Sapiens nur um den Akt des Malens ging. Möglicherweise beschwor er so eine erfolgreiche Jagd herauf. Andere Archäologen sagen, die abstrahierten Zeichnungen aus Mineralienfarben in Schwarz und Rot seien eine Art Info-Brett gewesen. Sie hätten jahreszeitliche Veränderungen in den Wanderbewegungen der Herden festgehalten und so die Jäger auf die Jagd vorbereitet.

Zu Prinzhorns Zeiten gab es keine Kunsttherapie. Auch heute ist sie in Deutschland eine recht junge Fachrichtung, während sie in den USA und England bereits seit 30 Jahren anerkannt ist. Der Berliner Studiengang ist eine Kooperation mit der Park-Klinik Weißensee und dem Goldsmith College, einer angesehenen Kunsthochschule in London. 120 Therapeuten sind seit dem Jahr 2000 ausgebildet worden.

Die Mehrzahl der Menschen verspürt kein Verlangen, ein Bild zu malen, sagte Studiengangsleiterin Karin Dannecker. Die Aufgabe der Therapeuten sei es daher, die Patienten zu überzeugen, dass die Kunsttherapie förderlich ist, um mit einer Krise oder einer Krankheit umzugehen. „Die meisten merken dann doch, dass es sich lohnt in diese fremde Welt einzutreten.“ Eine Patientin mit Borderline-Syndrom etwa kam zu Dannecker in die Kunsttherapie und setzte auf das ganze Blatt verteilt sechs Blumen, ähnlich, wie sie Kinder malen. Die Patientin ist in ihrer Familie das siebte Kind gewesen. Sie habe sich immer als die Unerwünschte empfunden, hatte sie erzählt.

Stehen die Blumen also für die Geschwister? Dann malte die Patientin dahinter zwei Flächen in Blau und Rot. „Ah, da haben Sie jetzt einen Hintergrund angedeutet“, sagte damals Dannecker. „Angedeutet?“, fragte die Frau erschrocken zurück. Sie dachte, sie habe damit etwas verraten. Die Angst, Verstecktes plötzlich sichtbar werden zu lassen, ist groß. Gleichzeitig beruht hierauf das Prinzip der Kunsttherapie: Mithilfe eines selbst gemalten Bildes oder einer Tonfigur können Therapeut und Patient ins Gespräch gelangen. Es ist eine Dreiecksbeziehung, Fachleute sprechen von einer Triade. Die Borderline-Patientin konnte nach der Unterhaltung, bei der sie sich mehr und mehr vom Bildgegenstand entfernte und allgemeiner über ihre Gefühle sprach, viel befreiter zum Pinsel greifen. In der nächsten Sitzung strich sie großzügig abstrakte Streifen auf das Papier. Man hätte glauben können, dahinter steckt eine ganz andere Malerin.

Die Einsatzfelder der Kunsttherapeuten sind vielfältig. Sie arbeiten nicht nur in der Psychiatrie, sondern beispielsweise auch in der Onkologie, also mit Krebspatienten. Sie leiten Behinderte an, werden im Strafvollzug oder auf Drogenstationen und in der Kinder- und Jugendarbeit eingesetzt.

Uwe Herrmann ist Therapeut am niedersächsischen Landesbildungszentrum für Blinde. Seine Beispiele belegen, wie tiefgreifend Kunst vom Menschen wahrgenommen wird. Auch von jenen, die von Geburt an blind sind. Herrmann, der zu dem Thema gerade seine Doktorarbeit schreibt, erzielt in seinen Langzeittherapien mit verhaltensauffälligen Kindern erstaunliche Ergebnisse.

Er gab den zehn- bis 14-jährigen Patienten Tonio, Ron und Marianne Ton in die Hand. In den ersten Jahren formten sie daraus kleinteilige Kügelchen oder Würste. Sie sollten nichts darstellen. Später dann kneteten sie gegenständlich, einen Turm oder Schlangen. Erst in einer dritten Phase formten sie menschliche Gestalten. Und sie bezogen diese Figuren auf sich selbst. „Das bin ich“, sagten sie. Kunst kann also im besten Falle einen Zugang zum eigenen Inneren schaffen. Man muss sie dazu nicht sehen können.

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