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Erzähl mein Leben. Hamlet (hier Lars Eidinger in der Inszenierung von Thomas Ostermeier) will, dass Horatio seine Geschichte erzählt. Eine typische „Reproduktionsfantasie“.

© dpa

Literaturwissenschaft: Hamlet im Licht der Fruchtfliege

Stephen Greenblatt, der Star der Renaissanceforschung, entschlüsselt Lebensgeschichten bei Shakespeare. An der FU Berlin erklärte er jetzt, warum die Figuren des Dramatikers sich dafür in besonderer Weise anbieten.

Hatte Hamlet eine Kindheit? Ein kleiner literaturwissenschaftlicher Sündenfall, eine solche Frage zu stellen – als sei Hamlet ein echter Mensch mit Vergangenheit, und nicht eine erdachte Dramenfigur, die erst mit dem Tod des Vaters die Bühne betritt! Doch dann, fünfter Akt, Hamlet zu Horatio: „Wenn du mich je in deinem Herzen trugst,/ Entsag noch vorerst der Glückseligkeit,/ Und in der harten Welt hol schmerzhaft Atem,/ Mein Leben zu erzählen.“ Welches Leben ist das, das Hamlet sich erzählt wünscht? Wo beginnt es, das Leben dieses großen Theaterhelden?

Wer, wie Stephen Greenblatt, berühmtester Shakespeare-Forscher, Harvard-Professor und Pulitzerpreisträger ist, muss sich um die Etikette literaturwissenschaftlicher Fragen natürlich nicht scheren. „Die Wahrheit ist, dass Shakespeares Texte einen zwingen, solche Fragen zu stellen: Wie waren Hamlets Eltern, als er noch ein Kind war?“ Freilich geht es Greenblatt, der am Montag vor vollem Haus an der Freien Universität sprach, nicht um eine küchenpsychologische Antwort auf diese Frage. Aber in Shakespeares Werk finde sich auffällig häufig die Redewendung: „To tell my story“, meine Geschichte erzählen. „Wie wird aus einem Leben eine Geschichte, die wieder und wieder erzählt werden kann?“

Nun ist Greenblatt nicht nur bekannt als Renaissanceforscher, sondern zumal als Begründer des New Historicism. Anfang der achtziger Jahre prägte er diesen Begriff, der weniger eine Schule begründete als ein breites Theorieparadigma einleitete, das den Blick auf die historische und kulturelle Einbettung eines Textes lenkte. Die New Historicists grenzten sich nach zwei Seiten ab: Von einem unhistorischen Analyseverfahren, das den literarischen Text als selbstständiges Kunstwerk verstand (New Criticism), und dem Old Historicism, der in die Fußstapfen des fortschrittsgläubigen Historismus des 19. Jahrhunderts trat und als Mechanismus zur Sinnstiftung im konservativen Geiste galt.

Die Prämisse des New Historicism, dass Texte historisch geprägt und Teil verzweigter Diskurse sind, fungierte als Brandbeschleuniger für die Wende einer sich zunehmend kulturwissenschaftlich ausrichtenden Literaturwissenschaft. So verklärte Greenblatt Shakespeare nicht mehr als autonomes Genie, sondern arbeitete zeitgenössische Dokumente – etwa Teufelstraktate – auf, die Ausdruck soziokultureller Energien ihrer Zeit waren. In der Faszination für all jene Stellen in der Literatur, an denen sie löchrig und von der Gegenwart angefressen wird, drückt sich auch eine Skepsis gegenüber großen Mastererzählungen aus. Die plastischen Charaktere eines Dramas, ihr Wehen und Wünschen, zerfasern in ein Geflecht aus Textstrukturen, nach deren Sinn nur mehr schwer zu fragen ist.

Und nun sind es dennoch die Lebensgeschichten, die Greenblatt umtreiben. Es sei, als könnten die Figuren Shakespeares nicht aufhören, nach ihren Lebenswegen zu fragen, stellt er fest. In ihrem Insistieren darauf, ihre Geschichte zu erzählen und erzählbar zu machen, drücke sich eine „Reproduktionsfantasie“ aus. Diese habe auch Wissenschaftler der Renaissance umgetrieben, etwa indem sie sich mit Reproduktionsfragen einzelner Spezies befassten, wie von Hähnen oder Fruchtfliegen. Hier sei eine „Sensibilität für die verschiedenen Stadien des Lebens“ entstanden, die auch den Dramen Shakespeares schon innewohne. „Es ist kein Zufall, dass er einen Schwerpunkt auf die späte Adoleszenz seiner Figuren legt“, denn diese kritische Phase sei die der Reproduktion.

Das Nach- und Weiterleben einer Figur ist dabei symbolisch zu denken. „Die Geschichte eines Lebens ist, zumindest implizit, die Geschichte vom Tod.“ Wenn Hamlet seinen Freund bittet, „mein Leben zu erzählen“, dann weil ihm sein Tod schon vor Augen steht: „Die Charaktere wissen um ihre Vitalität und projizieren sie in eine Zukunft, die erst mit ihrem Tod eintreten wird.“ Der Tod im Drama kommt, wenn der Vorhang fällt und das Publikum nach Hause geht. Hamlet fordert Horatio auf, „Atem zu holen“, um von ihm zu erzählen – wohlweislich, denn es wird eine lange Geschichte sein. Nicht, weil sie so weit in die Vergangenheit, in Hamlets Kindheit reicht, sondern weil sie von der Zukunft träumt, in der Hamlet immer wieder die Bühne betreten wird, so wie in Thomas Ostermeiers Schaubühnen-Hamlet, der Berlin seit Jahren heimsucht.

„Es gibt in allen Figuren Shakespeares diesen blinden Fleck“: Sie wollen ihre Lebensgeschichte erzählt wissen, „aber sie wissen auch, dass diese Geschichte nicht mehr kontrolliert werden kann“, erklärte Greenblatt. Hamlets letzte Worte, mit Greenblatt wären sie als größte Hybris der Theatergeschichte zu lesen: „der Rest ist Schweigen“, wünscht er sich und stirbt. Horatio und Greenblatt fangen mit ihrer Hamlet-Geschichte da erst an.

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