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Ein schwarzer Mann steht mit einer weißen Frau zusammen, ein anderer ergreift ihr auf dem Boden liegendes Taschentuch.

© mauritius images

Literaturwissenschaft: Shakespeare war kein Rassist und kein Antisemit

William Shakespeare ist nicht rassistisch, sondern stellt Rassismus und Antisemitismus an den Pranger. Das Plädoyer einer Anglistin, den "genialischen Sezierer von Ohn(e)Macht" neu zu lesen.

Anmerkung zur Schreibweise von Schwarz und weiß: Die Autorin, Susan Arndt, schreibt Schwarz groß, um den Widerstand gegen Fremdbezeichnungen zu markieren, die ‚Hautfarben’ rassistisch klassifizieren und kodieren und weiß klein und kursiv, um auch hier darauf zu verweisen, dass es nicht um ‚Hautfarbe’, sondern ein Konstrukt des Rassismus geht.

Caliban ein garstiges Monster? Shylock ein blutdürstender Händler?

Othello geht schweren Schrittes. Im Gewand des grünäugigen Monsters der Eifersucht sieht er in seiner über alles geliebten Desdemona eine Ehebrecherin, die sterben muss – aus seiner Hand. Er sieht sich aber außer Stande, ihr Blut zu vergießen. Die schneeweiße Haut, noch glatter als Alabaster, ist dem Schwarzen Mann ein Monument, das er sich nicht zu beflecken getraut. Deswegen erstickt die unschuldige Desdemona, die ihren letzten Atem darauf verwendet, ihn ihrer Liebe zu vergewissern. Othello bar jeder Vernunft? Caliban ein garstiges Monster? Shylock ein blutdürstiger Händler? Shakespeare ein Rassist und Antisemit?

Ja, Shakespeare diente dem britischen Empire als Fanfare der Überlegenheit. Seine Texte wurden gleich nach der Bibel in afrikanische Sprachen übersetzt, um englische Zivilisation zu verkünden. Das interessiert heute die Postcolonial Studies und mündet in der These, dass Shakespeares Othello oder The Tempest (dt. Der Sturm) den kolonialistischen Diskurs der Renaissance repräsentierten. Der Shakespeare-Forscher Harold Bloom zeigt sich irritiert über Ansätze, Shakespeare postkolonial zu lesen und empfiehlt jenen, die es dennoch tun, Shakespeare erst mal zu lesen. Shakespeares Stücke würden weder über Kolonialismus noch über Rassismus sprechen. Bloom irrt wie auch jene, die Shakespeare Rassismus unterstellen: Denn Shakespeare stellt Rassismus auf die Bühne, um ihn zu kritisieren, und dabei setzt er mit einer revolutionären Neubewertung von fairness ein.

Shakespeare thematisiert Geschlecht und "Rasse"

Das Wörtchen „fair“, das im elisabethanischen England die aristokratische Schönheit einer weißen Frau beschreibt, gehört zu den 10 am häufigsten aufgerufenen Vokabeln in Shakespeares Werk. Zwar schwelgt Shakespeares fairness in der konventionellen Metaphorik seiner Zeit. Jedoch unterscheidet sich Shakespeare von seinen Zeitgenossen dadurch, dass er in Sonetten wie Dramen fairness der Weiblichkeit, der Aristokratie und/oder dem Weißsein entzieht. So werden konventionelle Konzeptionen von Geschlecht, Stand und ‚Rasse‘ seiner Zeit unterwandert. 

Während die Prokreationssonnette mit „fair youth“ einen jungen Mann meinen, wird im so genannten „dark lady“-Zyklus die fairness zwar der Weiblichkeit zurückgegeben – nicht aber ohne sie ebenfalls auf den Kopf zu stellen. Gemeinhin preisen Sonette aristokratische Frauen. Nun mag Shakespeares “mistress” als “dark lady” bekannt geworden sein. Sein lyrisches Ich jedoch spricht kein einziges Mal von „lady“. Es nennt sie “mistress”, “woman”, “slave”. “Dark” seinerseits wird nur einmal zu ihrer Attributierung benutzt, Black dagegen häufig – und zwar als „fair“ und „beautiful“. In Sonett 127 heißt es: "In alten Zeiten galt Schwarz nicht als schön,/ Und wenn, dann ohne es so zu heißen;/ jetzt aber kann Schwarz als Erbe der Schönheit auferstehen." Heißt es im Clouplet dieses Sonnete: "Dass alle Munde sagen, dies sei der Schönheit Angesicht", geht das Couplet der Sonette 132 noch einen Schritt weiter, wenn es heißt: "Dann werde ich schwören, die Schönheit sei Schwarz,/ und schändlich wer was and'res mag und sagt." (Diese und nachfolgende Zitate sind Übersetzungen der Autorin.)

Ihre Haare ähneln Rastas - "black wires"

Ich vertrete die These, dass das lyrische Ich der Sonette 127 – 144 eine Schwarze Frau adressiert, eine versklavte Frau, die in die Prostitution gezwungen wurde. Der Shakespeare-Forscher Duncan Salkeld hat jüngst Beweise zur Erhärtung einer seit den 1930er Jahren vertretenen These vorgelegt, nämlich, dass die in den fraglichen Sonetten adressierte Frau eine reale Entsprechung in Lucy (Vorsicht, rassistisches Wort) Negro aus dem Londoner Grays Inn (Clerkenwell) finde. Viele meinen wie Salkeld, dies sei eine weiße Prostituierte, die sich selbst so nannte, weil sie den Namen als exotisch erotisierend empfand. Was aber wenn der Name „Lucy N.“ der üblichen Praxis entsprang, versklavte Menschen mit Fremdbenennungen wie eben diesen zu versehen?

Textliche Belege, die diese These erhärten könnten, finden sich viele. Zum einen spielt Shakespeare in den Sonetten wiederholt mit der Vokabel „slave“ als Metapher für seine Liebe und sieht er Trauer in ihren Augen. Dies ist zwar für die Petrarkische Sonette-Tradition erst mal nicht ungewöhnlich; und doch könnten diese Motive hier auch etwas anderes bedeuten: Trauert sie um ihre Freiheit? Und wenn das lyrische Ich ihr Raum einräumt und sie diesen nutzt, um von Hass zu sprechen – könnte sie damit nicht auch die unwillkommenen Freier meinen? Zum anderen sind es die Verse, die die adressierte Frau physisch zeichnen, die eine Schwarze Frau sehbar werden lassen. Zugegeben: die "rabenschwarzen Augen ", die in nichts der Sonne ähneln, können von Frauen der ganzen Welt getragen werden. Doch ihre Brüste sind nicht weiß wie Schnee, sondern "dun" – was aus dem Mittelenglischen als braun zu übersetzen ist; und ihre Haare ähneln Rastas oder genauer "black wires". Hier und in anderen Versen versammeln sich Anspielungen auf das Aussehen der Frau, die es der Lese-Fantasie erlauben, eine Frau afrikanischer Herkunft zu imaginieren.

Würde Shakespeare "black" sagen, wenn der "dark" meint?

Was für eine revolutionäre Poesie zu einer Zeit, da sich die eigene Königin in weißes Puder kleidet – und nicht nur um die Abwesenheit eines königlichen Erben als jungfräuliche Tugend zu verkaufen, sondern auch um Versklavung und Vertreibung von Schwarzen zu legitimieren. Anders als ihre Vorgängerin Queen Mary I zeigte sich Elisabeth I, die 1558 gekrönt wurde, sichtlich interessiert daran, das iberische Monopol an der Deportation und Verschleppung afrikanischer Menschen aufzubrechen. Hatte sie ersten Ambitionen John Hawkyns noch zögernd gegenüber gestanden, so unterstütze sie seine zweite Reise zur Versklavung von Afrikaner*innen (1564-1565) bereits finanziell. Dass im Zuge dessen mehr und mehr versklavte Menschen auch nach London kamen, während Elisabeth I. 1596 und 1601 Dekrete erließ, die Schwarze des Landes verwiesen, ist nur scheinbar ein Widerspruch. Denn beides vereint die Erzählung, dass Schwarze weder Menschen noch Teil des Humanismus und seiner Rechte sind.

Entscheidend ist Othellos Status als "Anderer"

Deswegen nimmt es kaum Wunder, dass der Satz “beauty herself is black“ jahrhundertelang nur mit der Erklärung plausibel schien, dass der Meister des Wortes eigentlich gar nicht ‚black‘ meine, wenn er ‚black‘ sagt – sondern eben vielmehr „dark“ im Sinne von „brunett“. Doch ist dies wirklich plausibel? Würde der Meister aller Worte „black“ sagen, wenn er „dark“ meint? Warum sollte er das tun, da doch „black“ und „dark“ längst so entschieden verschieden über ‚Hautfarbe’ sprachen und sogar race bereits in diesem Sinne eingeführt war (auch in Shakespeares Werk; er erwähnt es 18 Mal)? Seit dem Mittelalter war weiß farbsymbolisch verbunden mit Himmel, Reinheit und Schönheit – und Schwarz mit seinem Gegenteil. Dabei dienten „Schwarz“ und „weiß“ zur  Kodierung von Körpern, Religion und Kultur. In Parzival aus dem 12. Jahrhundert etwa verwendet Wolfram von Eschenbach „Schwarz“ und „weiß“ zur Markierung von ‚Hautfarben’ seiner Charaktere im Verbund mit ihrem Glauben. Belacane etwa ist Schwarz und das bedeutet islamisch und indisch und ihr Sohn Feirefiz, Parzivals Halbruder, ist Schwarz und weiß gescheckt wie eine Elster.

Obwohl er mit Parzival den Gral findet und zum Christentum konvertiert, wird er von Parzival letztlich dahin „zurück“ geschickt, wo er „hingehört“: den „Orient“. Dieses Narrativ stärkt sich im Humanismus und findet sich etwa auch bei seinen Zeitgenossen wie Ben Jonson und John Webster. Shakespeare wusste also ganz genau, was es hieß, einen Charakter als Schwarz zu markieren; und er macht es ja bekanntlich auch bei Othello, der sich selbst als „black“ bezeichnet und davon erzählt, wie er als Kind versklavt wurde. Eindeutig soll sich nicht sagen lassen, ob er eine afrikanische oder arabische Herkunftsgeschichte hat, entscheidend ist sein Status als „Anderer“, als Person of Colour.

Othellos Bluttat scheint aller rassistischen Vorurteile gegen Schwarze zu bestätigen

Charaktere of Colour gab es jenseits von Shakespeare (wie eben etwa in Ben Jonsons The Masque of Blackness oder John Websters The White Devil) nur in Nebenrollen, die dazu dienen, die überlegenen Tugenden oder aber Makel weißer Protagonist*innen untermauern. Schon mit Aaron in Titus Andronicus schlägt Shakespeare hier im späten 16. Jahrhundert ein neues Kapitel auf. Othello schließlich ist ein ausgereifter Protagonist mit Ecken und Kanten, aber eben auch Tugenden und Visionen, so dass er trotz seines Scheiterns zu Empathie einlädt. Zwar scheint er mit seiner emotionalisierten Bluttat alle rassistischen Vorurteile gegen Schwarze zu bestätigen. Doch letztlich erzählt die Tragödie auch davon, dass ihm die venezianische Gesellschaft gar keinen anderen Spielraum bietet, als „schuldlos schuldig“ zu scheitern. Zwar gibt sie vor, ihn „integrieren“ zu wollen, doch ist dies nur Schein statt Sein.

"Ich hasse den Mohren wie Höllenschmerzen"

Noch bevor er die Bühne betritt werden Desdemonas Vater Brabantio und mit ihm das Publikum von Iago und Roderigo darüber informiert, dass Othello und Desdemona geheiratet haben. Dabei klingen sehr vulgäre rassistische Töne der beiden spanischnamigen Charaktere an. Insbesondere Iagos Name spielt auf den Rassismus des Erzgegners von Elisabeth I an. Er lässt den Namen des Schutzpatrons der spanischen Armee in der so genannten „Reconquista“ anklingen: „Santiago de Matamoros“, also „Santiago der Mohrentöter“. Iagos Worte sind ohnehin unmissverständlich: „Ich hasse den Mohren wie Höllenschmerzen.“ Dass das M-Wort im Elisabethanischen England abwertend wirkt, wissen Shakespeares Charaktere. In hypokritischer Verlogenheit nennen sie Othello bei seinem Namen (verbunden mit höflichen Vokabeln), solange er anwesend ist. Sobald er ihnen aber den Rücken kehrt nennen sie ihn „M.“ und verbinden diese Bezeichnung mit allerhand abwertenden Adjektiven.

Iagos und Roderigos rassistische hate-speech und Brabantios Meinung, dass es wider der Natur sei, dass seine Tochter Desdemona Othello liebe statt fürchte, ist nur die Spitze des Eisberges. Othellos Ehe und Leben wird vom Herzog von Venedig verteidigt. Doch sein Kompliment, dass Othello mehr fair als black sei, mag auch seinem Urteil geschuldet sein, dass er einen Schwarzen für besonders geeignet hält, die türkische Flotte zu besiegen. Desdemona wiederum liebt ihren Othello, wobei sie ihn jedoch erotisch exotisiert.

Eine Illusion, zur weißen venezianischen Gesellschaft zu gehören

Othello bleibt der ‚Andere‘ – und niemand weiß das besser als er selbst. Das mag erklären, warum Othello nicht anders kann, als Iago zu glauben, dass Desdemona ihn, einen Schwarzen, gar nicht liebt/nicht lieben kann. Aus Desdemonas Liebe zieht Othello die Hoffnung, dass es für ihn eine Zukunft in der venezianischen Gesellschaft geben kann. Der postkoloniale Theoretiker Frantz Fanon wird dies 1952 in Peau Noir, Masques Blancs Laktifizierung nennen wird – die Illusion, als Schwarzer weiß wie Milch werden zu können, sobald er von Weißen wertgeschätzt bzw. geliebt werde. Genau aus diesem Grund bedeutet Desdemonas vermeintlicher Verrat Othello mehr als nur den Verlust ihrer Liebe. Er weiß, dass er die Illusion aufgeben muss, zur weißen venezianischen Gesellschaft gehören zu können. Im Angesicht von Iagos Intrige und der Liebe, die Desdemona ihm mit ihrem letzten Atemzug schenkt, bereut Othello seine Tat – und ersticht sich. Dass er dies mit einem spanischen Schwert tut, legt die Verantwortung in Iagos Hände. Dieser hat zwar mit dem Tod Desdemonas und Othellos sein Ziel erreicht, das zu beenden, was er als widerwärtig ansieht. Doch ihn erwartet das, was er ebenso hasst wie Othello: Folter und damit „Höllenschmerzen“. Letztlich steht nicht Othello am Pranger, sondern der von Iago repräsentierte Rassismus samt seiner Besessenheit von der Reinheit von Blut und Religion, der aus Othello einen Mann macht, der alle von Weißen gehegten Vorurteile von Emotionalität bis Grausamkeit zu bestätigen scheint.

Nicht Caliban steht auf der Bühne, sondern der kolonialistische Blick auf ihn

Während Othello 1604 diskursiv mit dem Versklavungshandel und den Dekreten Elisabeth I verbunden scheint, bietet die europäische Kolonisierung der Amerikas (wie auch von James I seit 1607 verfolgt) den zeithistorischen Rahmen für The Tempest (Dt. Der Sturm) aus dem Jahr 1611.Der exilierte König Prospero lebt im Exil auf einer Insel. Dort trifft er auf Ariel, den er aus der Herrschaft Sycrorax’ befreit, die er tötet, während er ihren Sohn Caliban ebenso versklavt wie Ariel.

Wir wissen nicht, wie Caliban dem zeitgenössischen Publikum im Globe präsentiert wurde. Heute wird er mehrheitlich als monströses Tier in Unterwürfigkeit und Angst inszeniert. Tatsächlich aber gibt das der Text kaum her. Es ist richtig, Caliban wird von den anderen (weißen) Charakteren als Affe, Bastard, Fisch, Sklave oder Monster bezeichnet. Wie aber kann er so viele Dinge gleichzeitig sein? Genauer hingeschaut zeigt sich schnell: Es geht nicht darum, wie Caliban aussieht, sondern darum, was die verschiedenen weißen Charaktere über Caliban (abfällig) sagen. Wie verlässlich aber sind diese Wort gewordenen Blicke?

Fantasien, die von Tieren über Monster bis zum Teufel reichen: Dies klingt reichlich nach kolonialistischer Rhetorik und der zu Shakespeares Lebzeiten populären Reiseliteratur eines Sir Martin Frobisher oder Richard Hakluyt. Mit Toni Morrisons Satz “Der Traum erzählt vom Träumenden” kommen wir der Sache näher: Nicht Caliban steht auf der Bühne, sondern der weiße kolonialistische Blick auf ihn.

Die kolonialistische Lust auf Exotik

Zunächst einmal stehen diese Blicke auf Caliban für das kolonialistische "spectacle of strangeness", das er reichlich mit Ironie bedenkt. Als etwa Antonio einer von Prosperos Lichtgeist Ariel erzeugten Illusion erliegt, ruft er euphorisch: “Und ich werde es als Wahrheit beschwören: Reisende haben nie gelogen, auch wenn Narren zu Hause sie verurteilen mögen.” Diese Ironisierung von Reiseliteratur und ihrer kolonialistischen Rhetorik findet ihre Fortsetzung in Trinculos erster Begegnung mit Caliban. Caliban anstarrend, kleidet er seinen Blickeindruck in folgende Worte: „Oh, was haben wir denn hier? Einen Menschen oder einen Fisch?“ Fische standen auf der untersten Skala der elisabethanischen Ordnung der Lebewesen. Weil er mit den Worten „Einen Fisch, er riecht nach Fisch“ fortfährt, kann er also nichts Menschliches in diesem Wesen finden und sein eigener niederer Stand scheint gehoben.

Doch plötzlich fällt Trinculo auf, dass dieser Fisch doch seltsam und vor allem kolonial attraktiv sei: „Wäre ich jetzt nur in England und hätte ich diesen Fisch angemalt; ... wenn sie einem lahmen Bettler nicht mal 1 Deut geben, so würden sie 10 ausgeben, um einen toten Indianer zu sehen ... Ich ändere jetzt meine Meinung ... Das ist kein Fisch, sondern ein Inselbewohner.“ Wort für Wort entfaltet sich hier ein Gedankengang, der im Kern verrät, dass Trinculos alkoholisierter Blick genau das sieht, was sein Plan, die kolonialistische Lust auf Exotik zu seinem finanziellen Vorteil zu nutzen, ihn sehen lässt. So entblättert sich, dass wir Trinculos Blick auf eine Person of Colour beiwohnen – einer Fantasie, die Calibans Tod respektlos einkalkuliert.

Alles Spekulation, bis auf eines: Caliban ist ein Mensch

Analog dazu verraten auch die anderen Attribute, mit denen Caliban von anderen weißen Charakteren versehen wird, letztlich nichts über Caliban, dafür aber viel über koloniale Blicke. Doch warum nennt Prospero Caliban “Bastard” oder “gescheckte Welpe? Sycorax, Calibans Mutter kommt aus Algerien. Prospero bezeichnet sie als blauäugig, was von den einen als Augenfarbe (einer Weißen?) und von anderen als Marker ihrer Schwangerschaft gelesen wurde: Strandet sie schwanger auf der Insel; oder wird sie schwanger nach Prosperos Ankunft, von ihm? „Bastard“ also als Marker für ein Kind aus weißer und Schwarzer Elternschaft?

Alles Spekulation, bis auf eines: Caliban ist ein Mensch. Und auch dafür finden sich im Drama direkte Anhaltspunkte. Beispielsweise, als Prosperos Tochter Miranda ihren künftigen Ehemann Ferdinand das erste Mal sieht, was sagt sie da? “Dies ist der dritte Mann, den ich je sah.” Der dritte Mann? Bislang sah sie nur Prospero – und Caliban. Er ist also ein Mann: Ein Mann of Colour, in dem Prospero nichts anderes sieht als: „meinen Sklaven“.

Prospero weiß: „Ohne ihn kommen wir nicht aus; er macht unser Feuer, sammelt unser Feuerholz.“ Das sagt Prospero, während Caliban noch nicht zu sehen war. Gerufen von Prospero sagt Caliban jedoch, noch bevor er die Bühne betritt aus seiner Wohnstatt heraus: “Hier drinnen gibt es ausreichend Holz.” Er weiß also um Prosperos Abhängigkeitskomplex, wie der Psychologe Octave Manoni es 1950 nennen wird, und er braucht Prospero nicht, sondern leistet Widerstand. Diese Lektion hat Prospero bereits gelernt: Caliban antwortet niemals freundlich, sagt er zu seiner Tochter Miranda.

Caliban begegnet Prospero rhetorisch und kulturell auf Augenhöhe

Caliban ist widerständig und nur durch Prosperos Magie zu kontrollieren. Auch wenn sich diese Magie aus Prosperos Büchern speist, äußert sie sich letztlich als Gewalt. Dabei ist es ein bedeutendes Detail, dass Caliban seine “unfreundlichen Antworten”, seine gesamte verbale Präsenz, im Blankvers vorzubringen weiß. Als Prospero mit Miranda zu Caliban geht, spricht er von einem Besuch, einem „visit“, und statt ihm zu gehorchen, sagt Caliban, er müsse dinieren: „I must eat my dinner.“ Damit begegnet er Prospero rhetorisch und kulturell auf Augenhöhe. Legt man zudem die Tatsache mit in die Waagschale, dass Caliban ein Anagramm von “Cannibal“ ist, liest sich sein Wunsch, „dinnieren“ zu müssen, durchaus auch als Drohung, dass Prospero sein Dinner werden könnte.

Caliban weiß, dass er Verbündete benötigt, um Prosperos Macht zu stürzen. Er wendet sich an die Bediensteten des Königs, Trinculo und Stephano, die sich allerdings über ihr Weißsein über ihn erheben und nicht anders können, als wie Prospero Caliban und seine Insel kolonisieren zu wollen. Caliban verspricht ihnen dann auch, sie – sobald sie gemeinsam Prospero besiegt hätten – zu den Herren der Insel zu machen, ihnen zu dienen, Feuerholz zu sammeln und für sie zu fischen. Da Caliban bereits deutlich gemacht hat, wie sehr er das hasst, ist dies also kaum mehr als eine List. Seine Untergebenheit ist ebenso gespielt wie seine Unkenntnis des „Feuerwassers“, mit dem Trinculo und Stephano glauben, ihn betrunken machen zu können, damit sie sich die Insel aneignen können.

Warnung, dass die Kolonisierten ihr Land und Leben verteidigen werden

Da aber Caliban Prosperos „water with berries“, also Alkohol, längst kennt, gibt er vielleicht nur vor, betrunken zu sein. Zumindest stimmt er sein Freiheitslied drunkenly an: „Mich gehen Fische nichts mehr an/und auch nicht Nöte nach Feuer und Holz ... Freiheit, Festtag, Festtagsfreiheit; Freiheit Festtag, Freiheit.“ Stephano, unwillig Caliban als Mensch zu sehen und zudem mit Freiheitsambitionen ernst zu nehmen, antwortet nur: “Ach wackeres Monster, geh voran.“ Doch Prospero ist auf der Hut vor Calibans Anspruch: „Dies ist meine Insel.“ Diese lässt sich nicht zweifelsfrei lokal verorten, doch beides, Insel und Caliban, sind als Metapher für den kolonialen Raum zu lesen. Und Prospero hat trotz aller Magie große Mühe hat, beides zu beherrschen. Er entscheidet sich gegen diese Zukunft, als er den Sturm heraufbeschwört, um letztlich frei (von der Insel/kolonialen Besitztümern) zu sein. Somit steht The Tempest als Warnung davor, dass Kolonien allein vermittels Gewalt in Besitz zu nehmen sind. Teil der Warnung ist es dabei auch, zu bedeuten, dass die Kolonisierten ihr Land und ihr Leben mit allen Mitteln verteidigen werden und England und Europa es nicht unterschätzen sollten, was es bedeutet, fremde Territorien erobern zu wollen.

Shylocks bewegende Rede stellt Antisemitismus an den Pranger

Denn gerät nicht Antonio, Shakespeares Kaufmann von Venedig, in Shylocks Hände, weil er alle seine Besitztümer an den Ozean verliert? Auch er ein Versklaver? Er mag den Streit um sein Leben gewinnen, wobei nicht einmal sicher ist, ob Shylock nach diesem trachtete. Er möchte ein Stück Fleisch. Doch welches unterzieht man einem „cut off“, wie es im Stück heißt (also nicht cut out): vielleicht geht es dem gedemütigten Shylock nicht um Antonios Herz, sondern Penis, also um Beschneidung und eine symbolische Konvertierung zum Judentum (und diese hätte Antonio physisch am Leben gelassen)? Als Rache dafür, was Antonio ihm als antisemitischer Diskriminierung zuteil werden ließ?

Aufmerksamer Zeitgenosse und gewandter Kritiker

Auch wenn es letztlich Shylock ist, der in einen ihm fremden Glauben gezwungen wird, seine bewegende „Und wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht“-Rede stellt Antisemitismus an den Pranger. Und auch andere Facetten des Antisemitismus werden Lügen gestraft: Wer etwa denkt, dass Shylock gierig ist, weil er den Verlust seines Ringes mehr beklagt als den seiner Tochter, vergisst, dass dieser Ring ihm das ist, was Othello sein Taschentuch, das er Desdemona anvertraut und durch Iago in den Händen ihres vermeintlichen Geliebten endet: Familiengeschichte und Liebe – die einzige Verbindung zu Mutter (Othello) bzw. Frau (Shylock).

Shakespeare, der genialische Sezierer von Ohn(e)Macht, war ein aufmerksamer Zeitgenosse des englischen Einstiegs in die Versklavung afrikanischer Menschen und der Gründung englischer Kolonien und ein gewandter Kritiker von Rassismus und Antisemitismus. Unmissverständlicher formuliert hätte ihm diese Weisheit zumindest Zensur eingebracht. Heute ist es brandaktuell, Shakespeare mit neuer Weisheit unverstellt zu lesen.

Susan Arndt

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