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Medizin: Frühgeborene - zu klein fürs Leben?

Auch extrem Frühgeborene kommen heute durch – oft mit bleibenden Schäden.

Eine Handvoll Mensch, nur 558 Gramm schwer. Ein „Frühchen“, das schon nach 24 Schwangerschaftswochen auf die Welt gekommen ist. Das Baby, dem 16 Wochen Geborgenheit im Bauch seiner Mutter zur normalen Entwicklung fehlen, wirkt noch nicht wie von dieser Welt. „Wenn wir nichts machen würden, würde es in kürzester Zeit sterben“, sagt Christoph Bührer.

Der Chefarzt der Klinik für Neonatologie der Charité hat das Foto des Frühgeborenen auf der Bühne des Maxim- Gorki-Theaters an die Wand geworfen. In der Reihe „Kosmos und Mensch“ spricht er zum Thema: „Zu klein für diese Welt?“

Im besten Fall stehen die Chancen dafür, dass ein so kleines Neugeborenes gesund überleben wird, bei eins zu drei, im schlechtesten fast nur bei eins zu 20. Mehrlinge und Jungen haben es schwerer, umgekehrt verbessern sich die Ergebnisse, wenn die Reifung der Lunge des Ungeborenen kurz vor der Geburt mit Medikamenten angeregt wird. Dafür ist es wichtig, dass die Schwangere schon vor der Entbindung in ein spezialisiertes Perinatalzentrum kommt.

Bei Kindern, die die schützende Gebärmutter noch früher verlassen, sieht die Bilanz noch einmal trauriger aus: Einer Statistik zufolge, die im Jahr 2000 im Fachblatt „New England Journal of Medicine“ veröffentlicht wurde, sterben rund 45 Prozent der Kinder, die nach 23 Schwangerschaftswochen geboren werden, sofort nach der Geburt, weitere 45 Prozent später auf der Intensivstation. Und von den letztlich Überlebenden ist nur die Hälfte ohne bleibende Beeinträchtigung. „Doch auch ein Kind, das nur 30 Minuten gelebt hat, lebt 30 Jahre später noch in der Familie weiter“, weiß Bührer aus zahlreichen Gesprächen mit Eltern.

Eines von 100 Kindern wird mehr als acht Wochen zu früh oder mit weniger als 1500 Gramm geboren. Das sind in jedem Jahr über 8000 Geburten in Deutschland. Die Möglichkeiten der Neugeborenen-Intensivmedizin, die sich vor allem in den 80er Jahren deutlich erweiterten, machen es schwerer, den Tod eines extrem Frühgeborenen als Schicksal zu akzeptieren. Und das nicht zuletzt für die beteiligten Mediziner. „Die Debatten darüber, was man macht, werden sehr intensiv geführt“, sagt Bührer. Und dabei kommen die Neugeborenen-Mediziner verschiedener europäischer Länder offensichtlich zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Das zeigt das „Euronic“-Projekt, für das über 1000 auf Neugeborene spezialisierte Kinderärzte befragt wurden.

Den Ärzten wurde der eingangs geschilderte Fall vorgelegt, zusätzlich wurde angenommen, dass das Kind drei Tage nach der Geburt eine Hirnblutung und schwere Krampfanfälle bekommen habe. Eine typische Komplikation, die Anlass gibt, die Therapie neu zu überdenken. Was würden die Ärzte tun? Die weit überwiegende Mehrzahl der italienischen Ärzte würde dann trotzdem weiterbehandeln, und das ganz unabhängig von der Meinung der Eltern. Schweizer und Niederländer sprechen sich hingegen mehrheitlich dafür aus, in dieser Situation die Intensivtherapie zu beenden, allerdings in Absprache mit den Eltern.

Auch die Mehrheit der befragten französischen Ärzte votiert für eine Beendigung der Intensivbehandlung, wenn solche Komplikationen allenfalls ein Leben mit schwersten Behinderungen erwarten lassen. Und sie würden sich auch nicht scheuen, zu Maßnahmen der aktiven Sterbehilfe zu greifen, die in Frankreich gesetzlich verboten sind. Im Gegensatz zu ihren Kollegen aus der Schweiz und aus Holland würden sie die Entscheidung treffen, ohne die Eltern einzubeziehen. Auch um sie nicht zu belasten.

In der Empfehlung zur „Frühgeburt an der Grenze zur Lebensfähigkeit des Kindes“, auf die sich in Deutschland vier Fachgesellschaften geeinigt haben, hat das Elternrecht einen hohen Stellenwert. Zugleich heißt es allerdings, die Bürde der Entscheidung dürfe nicht auf die Familie abgeschoben werden. Pflegekräfte reagieren, wie eine Umfrage aus Kanada zeigt, deutlich zurückhaltender, wenn es darum geht, ob zur Rettung kleiner Frühgeborener alle Register der Intensivmedizin gezogen werden sollten.

Für eine zweite, im Mai 2008 in der Fachzeitschrift „Pediatrics“ veröffentlichte kanadische Untersuchung wurden Mediziner und Studenten mit acht erfundenen Fällen konfrontiert. Bei allen stand das Leben akut auf dem Spiel, bei allen drohten beim Weiterleben schwere Beeinträchtigungen der Gehirnfunktion. Allerdings reichte die Altersspanne vom Frühgeborenen bis zum über 80-Jährigen. Prinzipiell waren die befragten Medizinstudenten eher geneigt, die Mittel zur Rettung des Lebens auszuschöpfen als Jurastudenten. Alle Befragten waren in zwei Fällen besonders zurückhaltend: Beim kleinen Frühchen und beim hochbetagten Tumorpatienten. „Ganz am Anfang und ganz am Ende des Lebens, im hohen Alter, ist man eher bereit, den Tod als etwas Natürliches zu akzeptieren“, folgert Bührer. Dass das leicht sei, ist damit nicht gesagt.

Adelheid Müller-Lissner

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