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Ausweg aus der Krise. Mancher, der in seelischen Nöten ist und dringend Hilfe braucht, bekommt sie nicht.

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Medizin: Therapie-Luxus für leicht Gestörte

Mediziner kritisieren Schieflage bei der Behandlung psychischer Leiden. Immer mehr Psychiater arbeiten mittlerweile als Psychotherapeuten. Sie haben dann weniger Patienten und verdienen mehr.

Ein junger Mann ging nur wegen einer Erkältung zum Hausarzt. Weil der Patient verstört wirkt, fragt der Arzt nach und erfährt, dass der Mann bedrohliche Stimmen hört und sich von Unbekannten verfolgt fühlt. Er überweist ihn zum Psychiater, weil er eine Schizophrenie vermutet, aber der Patient erscheint dort nie. Stattdessen bestürmt er seinen Vater: „Nun tu doch endlich was!“ Er sucht keine medizinische, sondern juristische Hilfe, weil er die Stimmen in seinem Kopf für solche realer Verfolger hält.

Einer Frau in den Fünfzigern, die manchmal etwas niedergeschlagen ist, fällt die Werbung einer psychosomatischen Privatklinik in die Hand. Der Flyer könnte von einem Luxushotel mit Wellnessbereich sein: Schwimmbad, Sauna, Kurse in Nordic Walking und Tai Chi … Bei der Antragsstellung hilft die Klinik. Wegen ihrer „Depression“ verbrachte die Dame dort ein paar angenehme Urlaubswochen, gestört nur von den lästigen Therapiestunden.

Zwei Beispiele für die Schieflage bei der Behandlung psychischer Störungen. Die Leichtkranken, so hat es oft den Anschein, sind über-, die Schwerkranken unterversorgt. Und nach welcher Methode jemand behandelt wird, das hängt selten von der Krankheit ab, aber oft vom Zufall oder der Länge der Wartezeit auf einen Therapieplatz. Ein Patient, dessen Angststörung in der Klinik verhaltenstherapeutisch behandelt wurde, bekommt nach der Entlassung zum Beispiel plötzlich eine tiefenpsychologische Therapie.

Solche Missstände wurden vor kurzem im Berliner ICC beim „Hauptstadtkongress Medizin und Gesundheit“ diskutiert. Zwar leidet in Deutschland etwa jeder Dritte irgendwann im Leben an einer psychischen Störung, aber es gibt hier auch vielerlei Möglichkeiten, fachliche Hilfe zu finden, sagte Iris Hauth (St. Joseph-Krankenhaus, Weißensee). In der Bundesrepublik arbeiten nach ihren Angaben etwa 13 500 psychologische und 5000 ärztliche Psychotherapeuten sowie 3000 Psychiater und 2200 Nervenärzte, die zugleich Neurologen und Psychiater sind.

Was die Bestandsaufnahme der Patientenzahlen betrifft, so weichen die verschiedenen Erhebungen derart voneinander ab, dass Andreas Köhler, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, dringend eine bessere Versorgungsforschung forderte. Die bisherigen lückenhaften Ergebnisse dieser Forschungen sind allerdings schon bedenklich genug:

Zwei Drittel der psychisch Kranken suchen laut Iris Hauth überhaupt keine medizinische Hilfe, und von denen, die wegen ihrer Störungen zum Arzt gehen, findet nur jeder Vierte zu einem der Psycho-Spezialisten. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil das Versorgungssystem so „undurchsichtig und für die Patienten verwirrend“ ist, wie Iris Hauth ausführte.

Die Behandlung (beispielsweise suizidgefährdeter schwer Depressiver) braucht Zeit. Die Kliniken bekommen aber für die ersten Tage ein höheres Entgelt als für weitere. Also werden möglichst viele Patienten möglichst kurz stationär behandelt und müssen nach der Entlassung oft sehr schnell wieder eingewiesen werden. Umgekehrt kommt es in der ambulanten Psychotherapie oft zu einer viel zu langen Behandlung, sagte der Psychiater Wolfgang Maier von der Bonner Uniklinik. Die Kurzzeit-Psychotherapie sei für viele Patienten sehr effektiv. Überflüssigerweise bekämen sie wegen des Honorars trotzdem 40 Therapiestunden, weil die Richtlinie dies vorsieht, laut Maier „eines der größten Hemmnisse einer angemessenen evidenzbasierten Versorgung“.

Es war, als wollten die Vertreter der Psycho-Fächer am eigenen Beispiel in schonungsloser Offenheit deutlich machen, wie sehr vorhandene oder fehlende finanzielle Anreize das bestimmen, was mit den Patienten geschieht. Nächstes Beispiel: Viele Psychiater bieten jetzt nur noch Psychotherapie an, wie Frank Bergmann (Berufsverband Deutscher Nervenärzte) berichtete. Sie wird so viel besser bezahlt, dass man nur etwa 50 statt 800 bis 1000 Patienten im Jahr behandeln muss, und überdies kommt die „sprechende Medizin nicht mehr zu kurz, wie sonst sogar beim Psychiater und beim Hausarzt“. Aus Sicht von Bergmann „eine Fehlsteuerung, die wir uns nicht leisten können“, denn das Hauptproblem in der Psychiatrie seien die Schwerkranken. Die meisten der 11- bis 12 000 jährlichen Suizide in Deutschland würden von psychisch Kranken begangen.

„Je leichter die Störung, desto größer die Behandlungschancen“, konstatierte der Versorgungsforscher Heiner Melchinger (Henriettenstiftung Hannover). Wer’s am nötigsten hätte, werde künftig noch weniger Behandlungschancen haben, weil die Nachfrage steige. Denn Befindlichkeitsstörungen, die zum normalen Leben gehören, werden immer öfter medikalisiert und in die Zuständigkeit des Gesundheitswesens abgeschoben.

„Ist heute fast jeder psychisch krank?“ Dieser Titel der hier referierten Veranstaltung ließ erwarten, dass die Psychiatrisierung alltäglicher Kümmer- und Ärgernisse im Zentrum stehen würde. Aber man verwies nur auf die – eindeutig ablehnende – Stellungnahme, die von der Fachgesellschaft unter dem Titel „Wann wird seelisches Leiden zur Krankheit?“ schon am 15. April 2013 abgegeben wurde. Sie plädiert darin dafür, „die Zahl der Diagnosen nicht durch neue, leichtere Störungen – für die es zumal gar keine Therapien gibt – zu erhöhen“.

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