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Schmerz

© pa/dpa

Medizin: Viele Schmerzpatienten leiden unnötig

Nicht selten wird an der Behandlung von Schmerz gespart. Ein Weißbuch deckt Missstände auf

Wie viele Menschen in Deutschland mit chronischen Schmerzen leben, weiß niemand genau. Nach Schätzungen könnten es fünf bis acht Millionen sein; bei etwa 900 000 hat sich der Schmerz verselbstständigt. Was man sicher weiß: Vielen, denen geholfen werden könnte, wird nicht geholfen. Deshalb haben Experten erstmals ein „Weißbuch Schmerz“ verfasst und im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses vor kurzem in Berlin vorgestellt.

Das Weißbuch sollte besser Schwarzbuch heißen. Auf dem Papier haben die Schmerzpatienten zwar, wie jeder Kranke, ein Recht auf Behandlung nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Wird sie ihnen vorenthalten, „verstößt das gegen das vom Grundgesetz geschützte Recht auf körperliche Unversehrtheit“, liest man im Weißbuch. Und auch dies: „Eine unterlassene Schmerzbehandlung erfüllt den Strafbestand der Körperverletzung“. Die Unkenntnis des „Standes der wissenschaftlichen Erkenntnis“ legt aber oft schon den Grund für die Entstehung des chronischen Schmerzes.

Für die Missstände gibt es viele Beispiele. Die folgenden stammen aus dem Weißbuch, der Podiumsdiskussion und einem Gespräch mit dem Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie, Gerhard Müller-Schwefe:

Der Operationsschmerz wird oft mit zu schwachen oder unterdosierten Medikamenten behandelt. So kommen die Patienten erstens später auf die Beine als nötig und leiden stärker an den Folgen des Bewegungsmangels. Zweitens kann schlecht behandelter Schmerz auch nach der Wundheilung anhalten.

Dem Phantomschmerz, der scheinbar im abgenommenen Arm oder Bein sitzt, ließe sich durch Infusionen an mehreren Tagen vor der Amputation vorbeugen. Doch das wird – meist aus wirtschaftlichen Gründen – oft unterlassen, teilte die Sprecherin einer Selbsthilfegruppe mit: Die Klinikaufenthalte sind dafür zu kurz, seit sie nicht mehr pro Tag, sondern pauschal pro Fall vergütet werden.

Unspezifische Rückenschmerzen, wie etwa der Hexenschuss, können durch veraltete Behandlungsverfahren chronisch werden. Nicht zuletzt dadurch wurden Rückenleiden zur teuren Volkskrankheit. Nach heutigem Forschungsstand lässt Kreuzschmerz nicht durch Schonung nach, sondern durch Bewegung, nötigenfalls mit Hilfe von Schmerzmitteln. Gegen die Regel „Aktivierung statt Schonung“ wird aber noch immer verstoßen. Ist der Schmerz schon chronisch, ist ebenfalls eine aktivierende Behandlung angezeigt, am besten in einem Zentrum, in dem Vertreter verschiedener Disziplinen einschließlich der Psychologie zusammenarbeiten. Durch eine frühzeitige integrierte Versorgung, wie sie jetzt auch von manchen Krankenkassen gefördert wird, lässt sich die Dauer der Arbeitsunfähigkeit halbieren. Stattdessen laufen die Patienten oft vergeblich von einem Arzt zum anderen, und die knappen Mittel des Gesundheitswesens werden für unwirksame Dauertherapien verschwendet, wie etwa Akupunktur, Spritzen, Rückenmarkstimulation und sogar einige Operationen.

Ein letztes Beispiel für die Unter- oder Fehlbehandlung betrifft Schmerzen nach einer Krebserkrankung: Eine sehr wirksame, individuell abwandelbare Therapie propagiert die Weltgesundheitsorganisation WHO bereits seit 1986. Aber noch immer leiden Krebskranke unnötig an oft gut zu behandelnden Schmerzen. Dahinter steht vielfach die unbegründete Furcht vor Opioiden wie Morphin. Der deutsche Begriff „Betäubungsmittel“ führt in die Irre, denn bei Dosierung nach Maß und regelmäßiger Anwendung „steigt die Lebensqualität und Aktivität der Patienten“.

Aber nicht nur die moderne Krebsschmerztherapie ist noch viel zu wenig bekannt. „Man kann sein Medizinstudium absolvieren, ohne je etwas über chronischen Schmerz gehört zu haben“, hieß es in der Diskussion. Neue Erkenntnisse der Schmerzforschung kommen den Patienten oft nicht zugute. So wissen nicht einmal alle Ärzte, dass es ein „Schmerzgedächtnis“ gibt: Wenn die Krankheit oder Verletzung längst geheilt ist, kann der Schmerz bleiben. „Die ständigen Schmerzreize haben dann, im Zusammenspiel mit psychischen und sozialen Faktoren, das Nervensystem verändert“, und zwar bis in die Moleküle. So entsteht die „Schmerzkrankheit“. Die aber existiert in der internationalen Krankheitsklassifikation noch gar nicht. Sie anzuerkennen, gehört zu den Forderungen der deutschen Schmerzorganisationen, ebenso eine stärkere Forschungsförderung sowie Schmerzdiagnostik und -therapie als Pflichtfach im Medizinstudium und der Facharzt-Weiterbildung . Zudem fordern Experten die Einführung eines Facharztes für Schmerztherapie, eine bessere Prävention und interdisziplinäre Behandlung in genügend Schmerzzentren.

Nur so könnte die Entstehung von Dauerschmerzen vermieden werden. „Dazu sind nicht unbedingt mehr Mittel erforderlich, sondern vielmehr eine intelligente Nutzung der vorhandenen.“

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