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An der Nationalen Kohortenstudie sollen 200000 Bundesbürger teilnehmen.

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Medizin: Wie krank sind die Deutschen?

200 000 Bundesbürger, eine Studie: Die Nationale Kohorte soll Hinweise darauf geben, was Volkskrankheiten verursacht und wie man sich vor ihnen schützt.

Wer diesen Brief bekommt, ist auserwählt. Einbilden sollte man sich darauf allerdings nicht allzu viel, denn das Schreiben erhalten in diesen Tagen Hunderttausende. In welchen Briefkästen es landet, hängt noch dazu vom Zufall ab, Glücksfee spielen die Einwohnermeldeämter. Es ist die Einladung zur Teilnahme an einem gesundheitswissenschaftlichen und medizinischen Großprojekt, das seinesgleichen sucht: 200 000 Bürger zwischen 18 und 69 Jahren sollen sich untersuchen lassen, 30 000 allein in Berlin und Brandenburg, wo es an der Charité, am Max-Delbrück-Centrum in Buch, am Robert-Koch-Institut und am Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke Studienzentren geben wird. Ihr Geschick wird über mindestens 20 Jahre verfolgt. Alle vier bis fünf Jahre wird geprüft, wie gesund oder krank sie sind, außerdem sollen sie regelmäßig Fragebögen beantworten. Langfristig werden ihre Daten mit denen aus krankheitsbezogenen Registern verknüpft.

210 Millionen Euro werden Helmholtz-Gemeinschaft, Forschungsministerium und die Bundesländer dafür aufbringen. Das ist viel Geld. Aber die Teilnehmer werden einem so großen Spektrum an Tests unterzogen wie bei keiner anderen derartigen Erhebung.

Die Teilnehmer werden gründlich durchgecheckt

Wer zur „Nationalen Kohorte“ gehört, repräsentiert das Land. Er oder sie wird von Wissenschaftlern zu Lebensstil und Gesundheit befragt, körperlich gründlich durchgecheckt und liefert Blut-, Speichel-, Urin- und Stuhlproben. Selbst Zähne und Mundhöhle werden inspiziert. Einige Teilnehmer laufen für etwa eine Woche mit einem Akzelerometer herum, einem tragbaren Messgerät, das ihre Bewegungen aufzeichnet. Eine kleine Gruppe bekommt eine Ultraschall-Untersuchung des Herzens, eine weitere wird ins Schlaflabor gebeten, 6000 Bürger sollen in einem Magnetresonanztomografen (MRT) durchleuchtet werden. So können Ärzte zum Beispiel Fetteinlagerungen in der Leber erkennen, die das Risiko für einen Diabetes erhöhen – jedoch nicht bei jedem. Nicht zuletzt wird es ausführliche Tests zu Gedächtnis und anderen geistigen Fähigkeiten geben. Denn eines der wichtigsten Themen ist die Altersdemenz. Was schützt davor, was erhöht die Risiken? Im römischen Heer war die Kohorte eine organisatorische Einheit von Soldaten, die gemeinsam marschierten. Aus dieser Historie bleibt den modernen Studien-Kohorten allenfalls, dass auch ihre Mitglieder „rekrutiert“ werden. Zum Beispiel nach dem Geburtsjahrgang, wie bei der „British Birth Cohort Study“, in die rund 17 000 Babys gleich nach ihrer Geburt im März 1958 einbezogen wurden.

Kohortenstudien laufen über Jahrzehnte

Im letzten Jahr wurden die Babyboomer, nunmehr 55 Jahre alt, zum vorerst letzten Mal interviewt. Für die Untersuchung wurden zahlreiche körperliche Daten gesammelt. Die Teilnehmer (und zu Beginn deren Eltern) wurden aber auch immer wieder nach ihrer Befindlichkeit und Zukunftsplänen gefragt. So wollten die Forscher im Jahr 1969 von den 11-Jährigen wissen, wie sie sich das Leben mit 60 Jahren vorstellen. Der Abgleich mit der Realität steht noch aus, für 2018.

Alle Kinder, die in einem bestimmten Zeitraum geboren sind, alle Erwachsenen einer bestimmten Altersgruppe, ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung – die Kriterien, nach denen die Teilnehmer für eine Kohortenstudie ausgewählt werden, sind einfach. Sie durchzuführen und durchzuhalten, ist dafür umso schwieriger. Die Probanden müssen teilweise über Jahrzehnte der Studie treu bleiben, die Forscher müssen Kollegen der nächsten Generation finden, die die Untersuchung fortführen. Von der Finanzierung ganz zu schweigen.

Für EPIC, die „European Prospective Investigation into Cancer and Nutrition“, wurden an 520 000 Männer und Frauen aus 23 Studienzentren in zehn europäischen Ländern glücklicherweise nicht nur Fragebögen verteilt, von ihnen wurden von Anfang an Blutproben genommen. Zudem wurde neben Größe und Gewicht der Taillenumfang gemessen, der heute – nicht zuletzt dank der EPIC-Ergebnisse – als bedeutsamer Risikofaktor für verschiedene Volksleiden gilt. 1992 startete die Studie, zu der Heidelberg 25 000 und das Deutsche Institut für Ernährungsforschung in Potsdam 27 500 Teilnehmer beisteuerten.

Unter Ärzten ist wohl eine Kohortenstudie aus den USA am bekanntesten. Sie hat einer unbedeutenden Kleinstadt zur Berühmtheit verholfen: Framingham in der Nähe von Boston. Bereits im Jahr 1948 wurden mehr als 5200 zufällig ausgewählte 30- bis 62-jährige Einwohner in die Studie eingeschlossen. Die Forscher wollen damit mehr über die Entstehung von Herzleiden erfahren. Im Lauf der Jahrzehnte kamen mehrfach neue Kohorten dazu, im Februar 1971 wurde die 30. Untersuchungsrunde abgeschlossen.

Die einzelnen Studien, die daraus hervorgingen, sind – um im militärischen Bild zu bleiben – Legion. 1960 kam heraus, dass Zigarettenrauchen das Risiko für eine Verengung der Herzkranzgefäße und einen Herzinfarkt erhöht, 1970 wurde der Zusammenhang zwischen Bluthochdruck und Schlaganfall mit Zahlen untermauert, später wurden das „schlechte“ LDL-Cholesterin und Übergewicht als Risikofaktoren erkannt. Es entstanden verschiedene „Framingham-Rechner“, mit deren Hilfe Ärzte ein Risikoprofil für ihre Patienten erstellen können. In den letzten Jahren kamen vor allem Erkenntnisse über das Erbgut hinzu, zuletzt über die Variante eines Gens, das den Fettstoffwechsel reguliert. Wer es trägt, hat ein erhöhtes Risiko, dass sich die Halsschlagader verengt.

Für Kohortenstudien braucht man einen langen Atem. Auch die Nationale Kohorte soll fünf Jahre nach der Erstuntersuchung, die im Jahr 2018 abgeschlossen sein wird, zum zweiten Mal untersucht werden, danach soll es möglichst noch Jahrzehnte weitergehen. Welche Krankheiten werden die Teilnehmer dann entwickelt haben? Welche bisher noch unbekannten Zusammenhänge zwischen diesen Leiden und dem persönlichen Lebensstil, dem Erbgut und den Belastungen durch die Umwelt wird man erkennen?

Andere Studien sind schneller, aber fehleranfälliger

Mit Fall-Kontroll-Studien, die am anderen Ende ansetzen, kommt man schneller ans Ziel. Hier werden im Nachhinein Probanden, bei denen ein bestimmtes Ereignis, zum Beispiel eine Krankheit, schon eingetreten ist, mit Kontroll-Personen verglichen, die verschont blieben. Methodisch gelten rückblickende Befragungen allerdings als der weniger elegante Weg. Schließlich ist es schwer, sich im Nachhinein an Jahrzehnte zurückliegende Details aus dem eigenen Leben zu entsinnen. „Und weil man dann schon krank ist, erinnert man sich unter Umständen anders“, sagt Karl-Heinz Jöckel vom Uniklinikum in Essen und Vorstandsvorsitzender des Vereins Nationale Kohorte. So kann das Ergebnis unbeabsichtigt verzerrt werden. Kohortenstudien sind zudem für mehrere Krankheiten offen – und für Fragen, an die anfangs noch keiner gedacht hat. Allerdings liefern auch sie nur statistische Zusammenhänge, keine Erklärungen dafür, wie eine Krankheit genau entsteht.

Was haben die Teilnehmer der Nationalen Kohorte davon, dass sie mitmachen? Sie bekommen die Ergebnisse der Blutuntersuchung mitgeteilt, und sie werden von Zeit zu Zeit einen Newsletter im Briefkasten finden, der sie über die Forschungsergebnisse auf dem Laufenden halten soll. Sollte bei der MRT-Untersuchung etwas gefunden werden, das abgeklärt oder sogar dringend behandelt werden muss, dann wird ihnen das nicht verschwiegen. Den Umgang mit solchen Zufallsbefunden hat eine Ethikkommission ausführlich diskutiert.

Eine Kohortenstudie enthüllte Zusammenhänge zwischen Pille und Brustkrebs

Wer mitmacht, tut das aber vor allem im Dienst der Wissenschaft. Als man Mitte der 1970er Jahre über Langzeitfolgen der „Pille“ nachdachte, baten Forscher deshalb in den USA und in Kanada gezielt Krankenschwestern ums Mitmachen bei einer großen Kohortenstudie – eine medizinnahe und als altruistisch bekannte Berufsgruppe. Im Jahr 1976 wurden für die „Nurse's Health Study“ tatsächlich 238 000 junge Teilnehmerinnen gewonnen, seit 2010 läuft die dritte Welle dieser Studie. Wir verdanken der Studie Aufschlüsse über den Zusammenhang zwischen Pille und Brustkrebs. Während der Einnahme ist das Risiko erhöht, danach sinkt es wieder auf den Durchschnittswert. Dafür senkt die Pille das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken.

Mehr Aufsehen erregte die Studie der „Women’s Health Initiative“ (WHI), in der seit 1991 unter anderem die Langzeitfolgen der Hormontherapie in und nach den Wechseljahren analysiert wurden. Diese Langzeitstudie hat eine Besonderheit: 160 000 zu Beginn gesunde Frauen wurden nach dem Zufallsprinzip mit Hormonen oder mit einem Scheinpräparat behandelt. Bei Lebensstilfaktoren wie Sport oder Essen würden die Teilnehmer sich das wohl kaum gefallen lassen. Ethikkommissionen würden Studien nicht zulassen, in denen eine Gruppe zu Überernährung und Bewegungsarmut verurteilt würde. Auch bei der WHI-Studie gab es ein Problem. Sie wurde 2002 abgebrochen, da die Zwischenergebnisse besorgniserregend waren: Unter der Behandlung mit Östrogenen und Gestagenen war häufiger Brustkrebs aufgetreten.

Inzwischen wird dieses Ergebnis kritisch diskutiert, weil die beteiligten Frauen für die Hormontherapie schon zu alt und oft übergewichtig waren. Wie auch immer. Noch Jahre danach zehren Forscher von den Datenbergen, interpretieren sie neu und veröffentlichen Detail-Untersuchungen. Zuletzt war im Mai im Fachblatt „Journal of Urology“ zu lesen, dass Obst, Gemüse und Vollkornprodukte vor Nierensteinen schützen. Das haben die Daten von über 80 000 Teilnehmerinnen gezeigt, deren Gesundheit über 15 Jahre verfolgt wurde.

„Eine Werkbank für die medizinische Forschung der nächsten Jahrzehnte“, so nennt Jöckel die Nationale Kohorte. „Hätten wir die Studie vor 40 bis 50 Jahren aufbauen können, dann wüssten wir heute wahrscheinlich viel mehr über Leiden wie die Demenz.“ Was nicht ist, soll nun noch werden.

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