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© Mauritius

Meer: Lebendige Tiefsee

Weit unter dem Meeresspiegel gibt es viele Tiere. Ihr Leben ist bisher kaum erforscht.

Auf den ersten Blick scheint es in dem eiskalten Wasser in zweieinhalb Kilometer Tiefe kein Leben zu geben. Doch nachdem Forscher vom Alfred-Wegener-Institut (AWI) für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven für einen Versuch den Kadaver eines Schweinswals in das dunkle Wasser herabließen, dauerte es nicht lange und tausende Flohkrebse schwammen zu den Resten des Meeressäugers.

„Als wir wenige Wochen später die Stelle wieder inspizierten, waren vom Walkadaver nur noch Knochen übrig", berichtet der AWI-Meeresbiologe Michael Klages. Das Experiment ist Teil der seit 1999 laufenden Studie „Hausgarten“, in der Forscher die Tiefsee in der Framstraße untersuchen, die zwischen Grönland und Spitzbergen den Nordatlantik mit dem Polarmeer verbindet. Sie wollen wissen: Was passiert in der Dunkelheit der tiefen arktischen Gewässer? „Weil die Tiefsee bisher kaum erforscht ist, verblüffen uns manche Ergebnisse doch sehr“, sagt Klages.

Um das Leben in verschiedenen Tiefen zu studieren, hatten die Forscher den Walkadaver geteilt. Doch von jener Hälfte, die auf dem Boden in 5300 Meter Tiefe lag, wurde weitaus weniger gefressen als von dem Stück in 2600 Meter Tiefe – vermutlich verläuft das Leben in großer Tiefe langsamer.

Etwas anderes vewunderte die Forscher noch mehr: Eigentlich hatten sie im Sediment reichhaltiges Leben erwartet, weil tote Organismen aus höheren Wasserschichten die wichtigste Nahrungsquelle für die Organismen am Grund sind. In der Nähe des toten Wals waren Mikroorganismen nur wenig aktiv: Gleich neben dem Kadaver gab es praktisch keinen Sauerstoff im Boden. „Offensichtlich hatten die Bakterien die eingetragenen Nährstoffe so eifrig verwertet, dass sie dabei allen Sauerstoff aufgebraucht und sich damit sozusagen selbst die ‚Luft‘ abgeschnürt haben“, erklärt der Forscher.

Seit zehn Jahren fahren die Wissenschaftler verschiedener europäischer Forschungseinrichtungen unter Federführung des AWI jeden Sommer in die Framstraße. Dabei untersuchen sie den Boden in Tiefen zwischen 1000 und 5500 Metern an jeweils den gleichen Stellen.

„Das Leben dort unten ist ähnlich vielfältig wie im Regenwald oder in einem Korallenriff“, sagt der AWI-Forscher. So wie ein Blick von oben auf den Regenwald eine eher eintönige Landschaft zeigt, in der sich aber eine riesige Artenvielfalt verbirgt, steckt auch im Meeresboden eine sehr artenreiche Gemeinschaft von Lebewesen. Und genau wie im Urwald nicht etwa Jaguar und Riesenschlangen das Ökosystem prägen, sondern unscheinbare Insekten und Spinnen, machen auch in der Tiefe die kleinen Tiere die Vielfalt aus: Würmer, Krebse, Asseln.

Diese Organismen aber verändern mit ihren Aktivitäten die Lebensbedingungen in der Tiefe. So gibt es in wenigen Zentimetern Tiefe im Meeresgrund praktisch keinen Sauerstoff mehr. Gräbt ein Ringelwurm ein Loch in den Boden, dringt mit dem Wasser Sauerstoff ein und plötzlich können dort ganz andere Organismen leben als vorher. Kriecht eine Tiefseeschnecke über den Grund, schafft schon ihre Schleimspur einen neuen Lebensraum. Die Tiefsee ist also weitaus lebendiger als man bisher vermutete.

Das beobachten die Forscher nicht nur mit jährlichen Stichproben und ferngelenkten Unterwasserfahrzeugen, sondern auch mit Dauerexperimenten. Dazu lassen sie zum Beispiel „Lander“ in die Tiefe. So wird ein mannshohes Stahlgerüst genannt, das mit diversen Messgeräten ausgerüstet in weniger als einer Stunde vom Meeresspiegel bis in 2500 Meter Tiefe sinkt. Dort unten messen die Sonden etwa den Salzgehalt, die Strömungsgeschwindigkeit und die Temperatur. Kameras schießen zudem regelmäßig Fotos.

Nach einem Jahr kommen die Forscher zurück und lösen mit einem akustischen Signal einen Mechanismus aus, der die schweren Stahlplatten löst, die den Lander am Grund halten. Befreit von diesem Gewicht, schwebt das Gerät langsam wieder zur Oberfläche. Um es leichter zu finden, ist es unter anderem mit einem Blinklicht an der Spitze ausgestattet. Denn die Lander sind wertvoll: Die Konstruktionen kosten bis zu einer halben Million Euro – und enthalten alle Ergebnisse aus einem Forschungsjahr.

Tiefseeforscher Klages hofft allerdings, seine Lander in absehbarer Zeit verkabeln zu können. Auf dem Meeresboden soll ohnehin ein Glasfaserkabel vom Hauptort Spitzbergens Longyearbean bis zur Forschungsstation Nye Ålesund verlegt werden. Die etwa 100 Kilometer von dort zur Forschungsplattform in der Tiefe fallen kostenmäßig nicht so stark ins Gewicht und die Forscher bekämen zumindest einen Teil ihrer Ergebnisse nicht mehr mit einem Jahr Verspätung, sondern sofort.

Damit könnten sie auch die Sauerstoffmessungen online verfolgen, die in jüngster Zeit verblüffende Ergebnisse brachten: Maßen die Geräte im Jahr 2004 noch 84 Prozent Sauerstoffsättigung im Tiefenwasser, nimmt dieser Wert seither ab und war 2007 auf 78 Prozent gesunken. Ursache für diese Abnahme könnte theoretisch eine Änderung der Lebensgemeinschaften in der Tiefe sein. Solche Veränderungen aber wären den Forschern bei anderen Experimenten vermutlich aufgefallen. Es könnte daher auch noch ein anderer Mechanismus infrage kommen:

In der Framstraße kühlen die kalten Winde aus Grönland das Meerwasser stark ab und erhöhen dadurch seine Dichte, sodass große Wassermengen in die Tiefe sinken. Das neu entstehende Tiefenwasser trägt auch Sauerstoff in die tiefen Stockwerke des Meeres. Nimmt dort unten der Sauerstoffgehalt ab, könnte das ein Hinweis darauf sein, dass die Bildung des Tiefenwassers abgeschwächt ist.

Genau das befürchten Klimaforscher seit einiger Zeit: Durch ein warmes Klima verdunstet mehr Wasser aus den Meeren und so steigen die Niederschlagsmengen. Mehr Regen oder Schnee in der Framstraße wiederum verdünnt das Salzwasser und macht es leichter. Daher könnte weniger Wasser in die Tiefe sinken und so nicht nur den Sauerstoffgehalt des Tiefenwassers, sondern gleich auch die weltweiten Meeresströmungen verändern.

Ob aber wirklich der Klimawandel hinter dem verringerten Sauerstoffgehalt steckt, den die Forscher in der Tiefe des Nordpolarmeeres messen, wird sich erst in einigen Jahren zeigen. Schließlich könnte es auch nur eine kurzfristige Schwankung sein. Nur mit Dauerexperimenten wie „Hausgarten“ ist es möglich, solche kurzfristigen Variationen von langfristigen Veränderungen unterscheiden zu können.

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