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Leicht zugängliches Rüstzeug. Im März zeigte die Polizei in Koblenz eine bei einer Razzia gegen Rechtsextreme entdeckte „Mein Kampf“-Ausgabe und eine Hitler-Büste.

© dapd

"Mein Kampf"-Edition: Eine erschöpfende Lektüre

Der Berliner Historiker Wolfgang Benz kritisiert das Münchner Editionsvorhaben zu Hitlers „Mein Kampf“. Um die Gedankenwelt des deutschen Diktators zu entlarven, sei eine wissenschaftliche Neuausgabe unnötig.

Am Institut für Zeitgeschichte (IfZ) mit Sitz in München und Berlin arbeitet ein Team unter der Leitung des Historikers Christian Hartmann derzeit an einer wissenschaftlich kommentierten Edition von Adolf Hitlers „Mein Kampf“. Die Ausgabe soll bis zum 31. Dezember 2015 erscheinen, dem Tag, an dem der Freistaat Bayern die Urheberrechte für Hitlers Buch verliert. Mit Berufung auf diese Rechte, die 1945 vom Eher-Verlag auf das Bayerische Staatsministerium der Finanzen übergingen, wurden bislang alle Neuauflagen in Deutschland verhindert. Ziel der wissenschaftlichen Edition, die Bayern mit 500 000 Euro fördert, sei es, „das Buch zu entmystifizieren“, erklärt das IfZ auf seiner Homepage. Im Zentrum der Edition stehe „die Auseinandersetzung mit Hitlers Ideen und Behauptungen“, sie sollten „mit den Ergebnissen der modernen Forschung“ kontrastiert werden. Zudem wolle man „jedem ideologisch-propagandistischen oder kommerziellen Missbrauch von ,Mein Kampf’“ entgegenwirken. Mit diesem Editionsvorhaben setzt sich der Berliner Zeithistoriker Wolfgang Benz, 1990 bis 2011 Direktor des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin, im folgenden Text kritisch auseinander. Tsp

"Mein Kampf“, der bramarbasierende Monolog Adolf Hitlers, war bis zum Ende des Dritten Reiches in rund zehn Millionen Exemplaren verbreitet und in 16 Sprachen übersetzt. Das fast 800 Druckseiten starke Buch ist 1924 und 1926 in zwei Teilen erstmals erschienen und wurde seit 1930 in einem Band publiziert. Die Rechte liegen vorerst noch beim Freistaat Bayern, der aus guten Gründen Neuauflagen verhindert. In den Nachkriegsjahren, als Demokratie gestiftet wurde, als die politische Neuorientierung der Deutschen noch nicht selbstverständlich war, ist es sicher richtig gewesen, die Verlagsrechte auszusetzen. In den 50er-Jahren gab es mehr organisierte Rechtsextreme in der Bundesrepublik als heute. Aber auch deren Lektüre war natürlich nicht durch amtliches Reglement zu beeinflussen. Immerhin war es ein deutliches politisches und moralisches Signal zu verhindern, dass Hitlers Buch in Neuauflagen in die Regale der Buchhändler kam.

Aber treffen die Argumente, die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wohl richtig waren, noch zu? Ist der bayerische Staat aufgerufen, die Moral der Bürger zu schützen, die nach Meinung der Obrigkeit arg unaufgeklärt sind und zum richtigen Verständnis der Welt angeleitet werden müssen? Und ist es gar Zeit für eine öffentlich finanzierte wissenschaftlich kommentierte Edition?

Zuletzt ließ das Bayerische Staatsministerium dem britischen Verlag Albertas die Verbreitung eines kommentierten Auszugs aus „Mein Kampf“ im Rahmen der Edition „Zeitungszeugen“ verbieten. Die Argumentation im Januar 2012 war eindeutig: Medial unterstützt von jüdischer Prominenz wurde erklärt, dass es sich um ein Projekt schnöden Gewinnstrebens handele, was dadurch beweisbar schien, dass die „Zeitungszeugen“ (ebenso wie Tageszeitungen) am Kiosk und im Zeitschriftenhandel zu erwerben sind.

Jeder, der will, kann demnächst – nach Ablauf des Copyrights 2015 – den Text legal ins Internet stellen oder herunterladen, als wohlfeiles Buch drucken lassen und sonst wie verbreiten. Das geschieht auch jetzt schon vielfach, ist aber noch illegal. Das Buch ist nicht verboten, nur die Verbreitung des Werkes im Neudruck ist strafbar. Man muss also das Exemplar benützen, das Oma und Opa einst anlässlich ihrer Eheschließung zugedacht wurde, oder den Raubdruck, der im Internet verfügbar ist. Der Bürger, der sich im persönlichen Quellenstudium Gewissheit über die Ideologie des Nationalsozialismus, über den Denker Hitler, über die literarische Qualität des Traktats verschaffen will, kann für wenig Geld ein Exemplar im Antiquariat erwerben, wenn er den Gang in die öffentliche Bibliothek scheut.

Zu fragen ist aber auch und vor allem nach dem Nutzen, den die Kenntnis des Hitlerbuches stiftet. Befürchtet wird, dass Neonazis Honig daraus saugen könnten, da Rechtsextremisten es als Propagandamunition gegen die Demokratie verwenden wollten. Daran waren und sind sie ohnedies nicht zu hindern. Und auch künftig werden sie sich kaum auf den ausschließlichen Gebrauch einer vom bayerischen Staat finanzierten, von Gelehrten kommentierten Ausgabe festlegen lassen.

Aber sind Rechtsextreme in unseren Tagen überhaupt noch interessiert an Hitlers Ideologiefabrikat? Oder fürchten das nur Leute mit Aspiration auf die Vormundschaft über Bürger, um sie zu Untertanen zu machen, denen der Lesestoff mit Mitteln der Zensur aufbereitet werden muss? Das ist die eine Seite. Die andere besteht in der Unbedingtheit eines Aufklärungswillens, der darauf besteht, Hitlers „Mein Kampf“ müsse in vollem Umfang und vollem Wortlaut wieder unters Volk gebracht werden, damit jedermann sich selbst ein Bild machen und das historische Dokument studieren kann, das die Katastrophe der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland und Europa auslöste.

"Mein Kampf" enthält nicht den Masterplan der Hitler-Diktatur

Aber trifft die Vermutung auch zu, in „Mein Kampf“ habe man schon Jahre vor dem Machtantritt Hitlers alle seine Absichten und Pläne formuliert gefunden, das Buch enthalte den Grundriss des Dritten Reiches, den man rechtzeitig zu studieren versäumt habe? Den Erfolg des Demagogen Hitler, die Verführbarkeit seiner Zeitgenossen, den Jubel, mit dem so viele Deutsche dem Nationalsozialismus folgten, erklärt Hitlers Buch nicht. Denn „Mein Kampf“ ist nicht die Blaupause nationalsozialistischer Herrschaft.

Das Buch enthält nicht den Masterplan der Hitler-Diktatur und bringt weder Aufschluss über die Intention zum Judenmord noch zur Realisierung des Holocaust. Hitlers Buch ist jedoch getränkt von Judenhass und Chauvinismus; der Autor faselt endlos über die Gewinnung von „Lebensraum“, er agiert seine rassistischen, sozialdarwinistischen, ultranationalistischen Obsessionen und fixen Ideen aus, wie in seinen Reden, so auch im Buch.

Die Programm- und Bekenntnisschrift des späteren Diktators ist also das Pamphlet eines Besessenen. Es trägt wohl zum Verständnis der Ideologie ihres Autors bei, erklärt aber nicht dessen Aufstieg zur Macht. Ein Rätsel bleibt auch nach der Lektüre die begeisterte Gefolgschaft, die Hitler fand. Sein Buch hat den Zeitgenossen nicht die Augen geöffnet. Das eigentliche Phänomen des Aufstiegs des Besessenen besteht darin, dass der Siegeszug der NSDAP und der Machterhalt des Ideologen Adolf Hitler am 30. Januar 1933 trotz der verworrenen Gedankenwelt des Protagonisten stattfand. Nicht deshalb, weil niemand „Mein Kampf“ gelesen hätte und keiner wusste, was darin stand.

Um die Gedankenwelt Hitlers zu entlarven, muss man aber weder Neudrucke (als wissenschaftliche Edition oder unkommentiert im Originalton) veranstalten noch Verbreitungsverbote aufrechterhalten. Das Bedürfnis, den Text in voller Länge zu konsumieren, legt sich meist nach der Lektüre etlicher Passagen, dann lähmt Langeweile weitere Neugier. Der notwendigen Aufklärung ist Genüge getan, wenn sich jeder Interessierte vom Wortlaut der Sprache, der Diktion und vom Geist des Ideologen Hitler selbst überzeugen kann. Dazu reichen Auszüge mit Erläuterungen. Es braucht keineswegs die mehrbändige philologisch-kritische und historisch kontextualisierte Edition eines Expertenteams, sondern lediglich ein wenig Hilfestellung. Wer dann auch den vollen Text noch konsumieren mag, ist selbst verantwortlich für die Mühe, die er sich macht.

Doch wie haben wir es zu verstehen, wenn der mit der wissenschaftlichen Edition beauftragte Münchner Historiker Christian Hartmann in der „Süddeutschen Zeitung“ erklärt, aus professioneller Sicht sei es spannend, „Mein Kampf“ zu edieren, aber die Lektüre sei „um es mal hart zu sagen, schon ein ziemlicher Dreck“? Das sind starke Worte, die am Sinn des Unternehmens Zweifel aufkommen lassen könnten.

Warum dann die Anstrengung? Womit ist der Aufwand zu begründen, wenn die Dinge so einfach liegen? Dann würden in der Tat einige Kostproben des Hitlertextes genügen, eingebettet in eine Darstellung der Entstehungs- und Begleitumstände, der ideologischen Absichten des Verfassers und der verhängnisvollen Wirkungen der zur Herrschaft gelangten Ideologie. In gebotener Kürze, notwendiger Prägnanz und Verdichtung wäre damit allen Erfordernissen der politischen Bildung entsprochen.

Der Text basiert auf einem Aufsatz von Wolfgang Benz in einem Themenheft der „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft“ zur Diskussion um den richtigen Umgang mit Adolf Hitlers Text „Mein Kampf“. Das Heft erscheint am 19. November.

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