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Was fehlt Ihnen denn? Hier haben beide eine Verantwortung, Patient und Ärztin.

© picture alliance / dpa

Missbrauch durch Arzt und Patient: Krankmeldung ohne Krankheit verspottet die wirklich Kranken

Der "gelbe Schein" wird oft schamlos missbraucht - von Patienten und Ärzten gleichermaßen. Ein Essay.

Wenn sich ein Mensch krank fühlt, oder wenn er krank ist, dann hat er die Möglichkeit, einen Arzt aufzusuchen. Deutschland ist ein freies Land. Es gibt die freie Arztwahl. Geht der eingebildete oder tatsächlich Kranke zu seinem Arzt, entscheidet der (hoffentlich) frei von jeden Zwängen und nach bestem Wissen und Gewissen aufgrund des Standes der medizinischen Wissenschaften, aber auch aufgrund seiner Erfahrung 1. ob der Patient wirklich krank ist und 2. welche Untersuchungen und Behandlungen stattzufinden haben. Der Patient hat dann das Recht, sich darauf einzulassen oder nicht. Er kann auch nein sagen. Er kann sich aber keine Untersuchung und Behandlung wünschen, die der Arzt nicht für indiziert hält.

Fühlt sich der Patient krank und geht nicht zum Arzt, ist das seine Entscheidung. Steht er in einem Arbeitsverhältnis, muss er je nach Vertragsgestaltung in unterschiedlichen Fristen seinen Arbeitgeber informieren oder sogar ein ärztliches Attest vorlegen, den „gelben Schein“, die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Die Verantwortung liegt also bei demjenigen, der sich krank fühlt. Er entscheidet, wie er vorgeht. Gesellschaft und Arbeitgeber setzen ihr Vertrauen in den Arbeitnehmer und gehen davon aus, dass erhebliche Gründe vorliegen, die den Arbeitnehmer davon abhalten, zur Arbeit zu erscheinen. Diese Gründe können körperlicher, geistiger oder seelische Natur und sollten verhältnismäßig sein. Der Arbeitnehmer kann auch in Betracht ziehen, trotz gewisser Unpässlichkeit seinen Arbeitsplatz aufzusuchen.

Die Definition von krank heißt arbeitsunfähig

Beide Parteien, Patient und Arzt, haben also die Aufgabe, mit der verbundenen Verantwortung gewissenhaft umzugehen. Leider wird dieses Vertrauen, das die Gesellschaft in beide Parteien setzt, immer wieder missbraucht. Diesen Eindruck musste man zuletzt gewinnen, als sich im Oktober hunderte Mitarbeiter der Fluggesellschaft Tuifly und Air Berlin von einem auf den anderen Tag arbeitsunfähig meldeten. Ich fragte mich, wie es sein konnte, dass sich von einem auf den anderen Tag Hunderte von Arbeitnehmern zugleich krankmelden, um ihr Anliegen durchzusetzen. Weil es eher unwahrscheinlich war, dass ein Virus die halbe Belegschaft flachgelegt hat, wurde in den Medien schnell kolportiert, die Mitarbeiter hätten sich aus Protest krankschreiben lassen. Da also anzunehmen war, dass die Mitarbeiter tatsächlich nicht krank waren, sondern etwas anderes im Schilde führten, schoben sie eine Krankheit vor, um letztlich ihren Protest zu äußern.

Ob die Anliegen der Mitarbeiter berechtigt waren oder die des Unternehmens, soll hier nicht bewertet werden. Und die Frage, ob die Krankmeldungen ein wilder Streik waren, was Tuifly vor Entschädigungszahlungen bewahren würde, wird derzeit in mehr als 600 Klagen von Fluggästen von Gerichten geklärt. Unabhängig davon aber gilt: sich krankzumelden ohne krank zu sein, verspottet die wirklich Kranken. Niemand ist normalerweise freiwillig krank.

Krank zu sein, und zwar so sehr, dass man seiner Arbeit nicht nachgehen kann, erfordert ein ziemliches Maß an Einschränkungen. Die Spanne individueller Toleranz von Unpässlichkeit ist jedoch groß, und so bedarf es eines Arztes, um festzustellen, ob die Unpässlichkeit in Stunden von allein vorübergeht, durch seine Empfehlung innerhalb von Stunden gebannt werden kann und ob es notwendig ist, zu Hause das Bett zu hüten, also dem Arbeitsplatz fernzubleiben.

Es gibt unzählige Definitionen von Gesundheit und Krankheit. Es gibt kein unumstößliches und allgemein akzeptiertes Kriterium für das Wesen einer Krankheit. Eine Schwangere ist nicht krank und doch tritt die Krankenkasse für alle Leistungen mit Beginn der Schwangerschaft ein. Auch die Übergänge vom normalen Alter zur Krankheit sind unscharf. Das Herz eines 80-Jährigen funktioniert nicht so wie das eines 30-Jährigen. Ist er deswegen krank? Weil klare Definitionen also schwierig sind, meldet sich der Arbeitnehmer nicht eigentlich krank, sondern arbeitsunfähig. Der Arzt stellt mit dem „gelben Schein“ weniger die Krankheit als die Arbeitsunfähigkeit fest. Man muss unter Umständen also gar nicht „krank“ sein. Man ist nur nicht in der Lage zu arbeiten.

Krankschreibung zum Ferienbeginn? Der Holiday-Doc richtet's

Das jedoch waren, nebenbei bemerkt, nach allem, was bekannt wurde, die Arbeitnehmer von Tuifly sehr wohl. Dem Vernehmen nach sind viele Piloten zunächst zum Dienst erschienen, um sich nach dem „Check-in“ für arbeitsunfähig zu erklären. Auch wenn sie tatsächlich sehr wohl arbeitsfähig gewesen wären. Es scheint allzu leicht und verführerisch zu sein, sich einfach arbeitsunfähig zu melden. Weil das bei den Flugbediensteten so war, machten sie von der Möglichkeit Gebrauch. Und weil es offenbar leicht zu sein scheint, Krankheiten vorzuspielen, zu simulieren oder zu seinem Zweck zu instrumentalisieren, konnten quasi synchronisiert Hundertschaften ihrem Protest auf diese Weise Ausdruck verleihen. Vielleicht hatte der Arbeitgeber in seinen Arbeitsverträgen großzügigerweise geregelt, dass sich Arbeitnehmer erst nach ein, zwei oder drei Tagen mit einem ärztlichen Attest vorstellen müssen. Dieses Privileg wäre dann schamlos missbraucht worden.

Normalerweise bedarf es für die Krankschreibung Ärzte. Sie attestieren eine Arbeitsunfähigkeit, wenn sie einen Menschen für so beeinträchtigt halten, dass er nicht dazu in der Lage ist, seiner Arbeit nachzugehen. Es ist nicht bekannt, ob in jenem speziellen Fall tatsächlich Ärzte Dutzende, wenn nicht Hunderte von einem auf den anderen Tag krankschrieben. Wäre das so, hätten auch sie ihre Verantwortung missbraucht und ihre Unabhängigkeit aufs Spiel gesetzt. In der Vergangenheit sind immer wieder Fälle bekannt geworden, bei denen bezweifelt werden musste, ob Ärzte wirklich aus bestem Wissen und Gewissen heraus und aufgrund von Erfahrung und im Sinne von medizinischen Leitlinien die entsprechenden Krankschreibungen ausgesprochen haben. Sie hätten sich dann vorbehaltlos und ungefragt auf die Seite der Angestellten geschlagen und wären damit ihren berufsethischen Pflichten nicht gerecht geworden.

Krankschreiben ohne Kranksein ist ist unprofessionell und unkollegial

Sogenannte „Holiday-Docs“ schreiben Schülerinnen und Schüler oder Mitarbeiter immer gerade dann krank, wenn die Ferien beginnen oder günstige Urlaubstarife durch einen Tag Krankschreibung eingehalten werden können. So etwas spricht sich herum. Wie häufig werden nicht gerade am Freitag oder am Montag Krankschreibungen aus Gefälligkeit ausgestellt? Wer von uns hat nicht davon gehört, dass der Arzt auf dem Lande besser daran tut, auf Geheiß eines gesunden Bürgers gleich mal eine Woche Auszeit zu verordnen? Und wehe, wenn er es nicht tut. Dann ist das Image des Arztes in der Gemeinde perdu. Krankzuschreiben, ohne dass der Patient krank ist, ist unprofessionell und unkollegial. Wer immer ärztlicherseits dieses Spiel mitgespielt hat, hat sich moralisch disqualifiziert.

Ärzte müssen sich primär auf die Seite der Patienten stellen. Das ja. Zu helfen ist ihr originärer Auftrag. Doch sie dürfen es nicht unter allen Umständen tun. Und nicht selten wird die Krankheit als Mittel missbraucht, um anderen Motiven nachzugehen. So drängt sich heute immer häufiger die Frage auf, wie unabhängig und frei Ärzte in ihrer Entscheidung heute noch sind, wo sie von allen Seiten in ihrer Unabhängigkeit beschnitten werden. Budgetierungen, Kostendeckelungen, einheitliche Bewertungsmaßstäbe, Morbiditätsindizes und unzählige andere bürokratische und organisatorische Hürden engen den Handlungsspielraum von Ärzten immens ein oder verführen sie dazu, aus leichten Krankheiten schwere und lukrative Diagnosen zu generieren, wie es kürzlich von den Krankenkassen eingestanden wurde.

Die Deutschen gehen besonders häufig zum Arzt

Bei Niedergelassenen kommen Berater von Krankenkassen persönlich vorbei, bei stationär tätigen Ärzten fragen Geschäftsführungen nach, ob in den DRG-Systemen nicht etwas detaillierter, „korrekter“ kodiert werden könne. In beiden Fällen werden Ärzte nicht selten mit Nachdruck dazu bewegt, Patienten „kränker“ zu machen, als sie möglicherweise sind – zum Wohle der Klinikbilanz oder der Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds. Hinzu kommen die hohen Ansprüche der Patienten. Vor nicht langer Zeit erlaubte sich ein Krankenkassenvertreter darauf hinzuweisen, dass jeder zweite Arztkontakt vermutlich überflüssig sei. Möglicherweise suchen in Deutschland tatsächlich zu viele Patienten einen Arzt auf und geraten an Mediziner, die es ihrerseits verstehen, in Zeiten des Wettbewerbs einfache Symptome und Befunde zum Anlass zu nehmen, überflüssige Untersuchungen und Behandlungen in die Wege zu leiten. Kein Wunder, dass es reflexartig wütende Proteste seitens der Ärzteschaft hagelte, als dies die Runde machte. Für die Inhalte ihrer Proteste gibt es allerdings keinerlei Belege. Die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen in Deutschland ist im weltweiten Vergleich einzigartig hoch.

Während im Durchschnitt anderer europäischer Länder Patienten ihre Ärzte nur vier- bis achtmal im Jahr aufsuchen, nehmen je nach Zählweise die Deutschen zwischen 14 und 18 Konsultationen im Jahr in Anspruch. Entsprechend kürzer ist die einzelne Konsultationsdauer in Deutschland gegenüber anderen Ländern. Dort können sich die Ärzte mehr Zeit für den Patienten nehmen. Ärzte hierzulande haben kaum ein Interesse daran, Leistungen zu begrenzen und Patienten so zu erziehen, dass sie selbstverantwortlich handeln und nur, wenn es wirklich erforderlich ist, den Fuß in die Praxis oder die Klinik setzen. Zugleich sind Patienten nicht zuletzt durch die Medien oft so verunsichert, dass sie hinter jeder Kleinigkeit eine schlimme Diagnose wittern. Sie sind die Letzten, die sich gegen umfassende medizinische Maßnahmen zur Wehr setzen.

Warten mit Herzinfarkt, weil die Notaufnahme mit Bagatellfällen überfüllt ist

Auch die besonders häufige Inanspruchnahme von Notfallambulanzen in Krankenhäusern durch Patienten belegt das Phänomen, seine Krankheit dazu zu benutzen, sich Vorteile zu verschaffen. Mindestens jeder dritte Notfallpatient, der nachts in der Klinik aufläuft, hat in Wirklichkeit keinen medizinischen Notfall, sondern scheut die Wartezeiten in der Arztpraxis am Tage. 20 Millionen Patienten im Jahr erhoffen sich durch die Versorgung in der Notfallambulanz einer Klinik eine bessere Behandlung. Sie geben einen Notfall vor, in Wirklichkeit handelt es sich um eine Bagatelle. Auch hier wird die Freiheit des Systems durch Patienten missbraucht, die ihrer Verantwortung nicht nachkommen. Als Journalisten vorsichtig die Frage ins Spiel brachten, ob nicht ein wenig Erziehung oder sogar Strafzahlungen in den Fällen erhoben werden sollten, in denen Notfälle ganz offenkundig nicht vorlagen, hagelte es Proteste und Unverständnis aufseiten der Ärzteschaft. Unreflektiert wissen sich Patienten durch ihre Ärzte beschützt. Die Folgen missbrauchten Vertrauens in einer freien Gesellschaft werden allzu schnell übersehen. Hier ist es die verzögerte Behandlung tatsächlicher Notfälle. Wer möchte in der Notaufnahme warten, wenn er einen Herzinfarkt hat, weil jemand anders die Notambulanz wegen eines Bagatellinfekts blockiert? Ärzte scheinen sich hier schwerzutun, Grenzen zu ziehen.

Ärzte sind nicht einfach Serviceleister

Sie müssten kraft ihrer Autorität auch unbequeme Entscheidungen treffen. Autorität hat mit Kompetenz und Überzeugungskraft zu tun. Einem Patienten gefällig zu sein und ihm willfährig nachzugeben untergräbt die Autorität des Arztes. Autorität hat auch mit Verantwortung zu tun. Sie richtet sich nicht nur auf den Patienten, der vor einem steht. Auch andere, die seinetwegen vernachlässigt werden, gehören in den Blickwinkel; auch die Kosten; auch die Gesellschaft. Die Bürger wiederum können nicht erwarten, dass sie Ärzte ohne Weiteres als Serviceleister an ihrer Seite haben, die vorbehaltlos ihre Wünsche erfüllen. Ärzte wissen weder um die Hintergründe der Streikaktion der Tuifly-Mitarbeiter, noch vermögen sie sich unter Umständen in die Lage von Reisenden zu versetzen, die wegen des Streiks mit gepackten Koffern zu Hause verharren oder an fernen Orten bleiben mussten.

Zur Freiheit gehört die Verantwortung. Sie ist eine Vertrauenssache. Wird Vertrauen von den Patienten oder Ärzten missbraucht, müssen Gegenmaßnahmen ergriffen werden.

Der Autor ist Ärztlicher Direktor des MZG-Westfalen und Chefarzt der Cecilien-Klinik.

Andreas S. Lübbe

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