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Weltwirtschaftskrise 1929. Die Kapitalismuskritik führte damals in Deutschland auch zu Antisemitismus, sagt Kocka.Foto: akg

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Wissen: Mit den Krisen leben

Jürgen Kockas neue Sicht auf den Kapitalismus

Von Menschen gemachte Systeme bergen ihre Risiken. Ökonomische Systeme machen da keine Ausnahme. So klagte Isaac Newton anlässlich der Weltwirtschaftskrise, er könne zwar die Bewegung eines Körpers messen, nicht aber die menschliche Dummheit. Der Naturwissenschaftler verlor einen beträchtlichen Teil seines Vermögens, als 1720 die sogenannte Südseeblase platzte – in einem der bis dato größten internationalen Börsencrashs. Der Historiker Jürgen Kocka wertet den Crash als frühen Beleg für die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus. In der Zeit zwischen 1810 und 1987 habe es zwanzig weitere internationale Einbrüche gegeben, sagte Kocka jetzt in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Ihm ging es dabei nicht etwa um eine Verdammung des Kapitalismus. Sondern um seine Einordnung und Neubewertung aus historischer Perspektive.

Die Akademievorlesung über „Kapitalismus und Krisen“ war eine Deutschlandpremiere. Bereits im Frühjahr hatte Kocka die Gerald-D.-Feldman-Memorial- Lecture am Deutschen Historischen Institut Washington zum Thema gehalten, nun sprach der 69-jährige Emeritus der Freien Universität zum ersten Mal hierzulande über sein kürzlich begonnenes großes Altersprojekt. Über dem voll besetzten Einstein-Saal am Gendarmenmarkt lag daher eine gewisse Spannung. Kocka gilt als unverdächtig, dem Kapitalismus eine allzu große Liebe entgegenzubringen. Er gehört der Generation der Achtundsechziger an, zudem ist er einer der renommiertesten Vertreter der Bielefelder Schule der Sozialgeschichte, die ihre Sympathien zunächst klar auf der Arbeiterseite hatte und einem an Karl Marx und Max Weber geschulten Klassenbegriff frönte. Dem Kapitalismus hatte Kocka in seinem Klassiker „Weder Stand noch Klasse“ 1990 „starke soziale Wirkungen destabilisierender Art“ attestiert und ihn als Ursache von ökonomischer Ungleichheit und „negativer Proletarisierung“ identifiziert. Wie würde seine aktualisierte Sicht ausfallen?

Schon in seiner Dissertation von 1968 hatte Kocka das Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie erforscht, damals noch in kapitalismusskeptischer Zeit. Wie sehr sich der Wind seither gedreht hat, wird schon in Kockas begriffsgeschichtlicher Einleitung deutlich. Der Kapitalismusbegriff, eine semantische Schöpfung des 19. Jahrhunderts, wirke heute seltsam unzeitgemäß und fände in der Wissenschaft nur noch wenig Verwendung. Selbst Karl Marx habe ihn eher zögerlich benutzt. Für Historiker hingegen sei der Kapitalismus zuallererst ein Differenzbegriff, der von Epochen und Systemen abgrenze: Feudalismus und Ständegesellschaft, Planwirtschaft und Sozialismus.

Bei seiner Neuvermessung hält sich der Berliner Emeritus weitgehend an bewährte Bielefelder Hausgötter. Mit dem Soziologen Max Weber und dem Nationalökonomen Werner Sombart will Kocka den Kapitalismus als ein rationales System verstanden wissen, das Wirtschaft und Handel weitgehend getrennt von der Politik organisiert. Dagegen hält er aber auch die „kreative Zerstörungskraft“ des sich ständig selbst erneuernden Kapitalismus, die der Ökonom Joseph Schumpeter betont hat. Denjenigen, die den Kapitalismus als einen Garanten für Stabilität und Ordnung feiern, erteilt Kocka damit eine Absage: Ohne Krisen sei Kapitalismus nun mal nicht zu haben. Sie lägen in seinem Wesen und gehörten untrennbar zur wirtschaftlichen Freiheit.

Doch auch die Kapitalismuskritik verschont Kocka nicht. In Deutschland habe sie in der Vergangenheit zu Antisemitismus, Nationalismus und Antiliberalismus geführt, wie das Beispiel der Wirtschaftskrisen von 1873 und 1929 zeige. Hitler sei eine Folge der Börsenstürze und der danach grassierenden Arbeitslosigkeit und Verunsicherung gewesen. Allerdings habe die Krise auch reformerisch gewirkt. Roosevelts aktive Subventionspolitik des New Deal und die Wirtschaftslehre John Maynard Keynes’ seien ebenso Folgen von Finanzcrashs wie der Zweite Weltkrieg. Welche Folgen kann man von der jüngsten Krise erwarten?

In der ihm eigenen Neigung zur übersichtlichen Strukturierung zählt Kocka zunächst die Unterschiede zu den historischen Krisen auf. Goldstandard und Nationalökonomien sind Geschichte, auch sei ein gänzlich neuer Typ Manager entstanden. Heute träfen hoch mobile und risikofreudige Private-Equity-Manager weitreichende Entscheidungen über Kapital, das ihnen nicht gehöre. Anders als in Industrie und Handel trügen sie wenig Eigenverantwortung, bewegten aber viel mehr Kapital. Wenn hier auch die Mahnung zur vorsichtigen Regulierung mitschwang, erteilt Kocka volkswirtschaftlichen Experimenten dennoch eine klare Absage: Als Wirtschaftssystem sei der Kapitalismus heute alternativlos. Sozialismus und Nationalsozialismus hätten sich diskreditiert, in Letzterem sei der „erstaunlich anpassungsfähige Kapitalismus“ im Übrigen prächtig gediehen.

Mit Sorge betrachtet Kocka die gewandelte Rolle des Staates. Die Politik müsse den Kapitalismus endlich einmal ernst nehmen und seine Gesetze befolgen. Dramatische öffentliche Verschuldung, die abnehmende Sparquote in vielen Ländern und das Aufspannen staatlicher Schutzschirme über Banken, die sich verspekuliert haben, könnten auf Dauer keine Lösung sein. Radikale Kapitalismuskritik hört sich anders an. Bodo Mrozek

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