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Grundschulkinder klettern auf dem Schulhof in einer Kletterspinne.

© dpa

Multikulturelle Gesellschaft: Wie in der Schule Werte ausgehandelt werden

Was kann eine Lehrerin einem Schüler entgegenhalten, der ihr nicht die Hand geben will? Für seine differenzierten Antworten auf solche Fragen wurde jetzt ein Berliner Ethik-Professor ausgezeichnet.

Jugendliche, die in ihrer Schule auch beten wollen. Eltern, die nicht möchten, dass ihr Kind vom Völkermord an den Armeniern erfährt. Oder ein Junge, der seiner Lehrerin nicht die Hand geben will. Wie gehen Lehrkräfte und Schulleitungen mit solchen Situationen um, wie argumentieren sie gegenüber Schülern und Eltern? 50 potenzielle religiös-kulturelle Konfliktfälle, die sich in der Integrationsgesellschaft stellen können, hat Markus Tiedemann, Ethik-Professor an der Freien Universität Berlin, mit seinem Team am Institut für Vergleichende Ethik aufgegriffen. Die Antworten, die sie in ihrer Publikation und in anderen Projekten finden, haben den Forschern und Didaktikern jetzt den mit 10 000 Euro dotierten Kalliope-Preis eingebracht.

Vergeben wird er vom Deutschen Auswandererhaus in Bremerhaven, einem 2005 gegründeten Erlebnismuseum zu 300 Jahren Aus- und Einwanderungsgeschichte. Der in diesem Jahr erstmals verliehene Preis „für praxisnahe Migrationsforschung“ zeichnet Ansätze aus, die die Gesellschaft für das Thema Migration sensibilisieren. Dem FU-Projekt gelinge es in besonderer Weise, dem Dilemma der Normen- und Wertevermittlung in der interkulturell geprägten Gesellschaft des 21. Jahrhunderts entgegenzuwirken, lobt die Jury. Neben Museumsdirektorin Simone Eick gehört ihr unter anderem Bernd M. Scherer an, Intendant des Berliner Hauses der Kulturen der Welt.

Impulse für den Ethik-Unterricht

„Wir senden einen Weckruf in die Fachphilosophie aus, nicht nur im Elfenbeinturm zu forschen, sondern nach Instrumenten zu suchen, um kulturübergreifende Werte und Normen abzustimmen“, sagt Markus Tiedemann. Die Ergebnisse müssten in den Schulunterricht kommen: durch die Ethik-Lehrkräfte, die das FU-Institut ausbildet, durch Unterrichtsmaterial, das dort entwickelt wird – und durch Praxishilfen. Das Berliner Schulfach Ethik sieht Tiedemann als „tolles Modell“, in dem Schüler verschiedenster kultureller und religiöser Herkünfte gemeinsam Werte aushandeln. Aber oft werde kein guter Unterricht erteilt, zu 80 Prozent unterrichteten fachfremde Lehrkräfte.

Ein Teil des Preisgeldes soll jetzt in ein neues Praxisprojekt für die angehenden Lehrkräfte fließen: Im Bremerhavener Auswandererhaus werden 30 Studierende eine Unterrichtseinheit zum Thema Migration entwickeln. „Was bedeutet Heimat?“ ist eine der Fragen, um die es dabei gehen wird. Ein Hospiz, eine Jugendstraftanstalt, eine Krebsstation oder auch ein Kletterpark sind andere außerschulische Lernorte, an die sie später mit ihren Ethik-Schülern gehen, um ihnen Werte wie Empathie und Verantwortung nahezubringen.

Nicht die Hand geben? Scham sollte toleriert werden

In der Publikation mit dem Titel „Unsere Tochter nimmt am Schwimmunterricht nicht teil“ (Verlag an der Ruhr, 2012) ordnen jeweils Juristen, Philosophen und Islam- oder andere Religionswissenschaftler Vorstellungen und Verhalten von Eltern und Schülern ein. Wie differenziert dies geschieht, zeigt das Beispiel des Jungen, der seiner Lehrerin nicht die Hand geben will.

„Zuerst sollte die Schule den Jungen fragen, welche Motive er hat“, sagt Tiedemann. Nach Meinung von Islamwissenschaftlern stehe in den meisten Fällen die Scham dahinter, das andere Geschlecht zu berühren. Dann sei der verweigerte Händedruck zu tolerieren, zumal die Schule keine juristische Grundlage habe, ihn zu verordnen. Dass Asiaten statt einer Berührung lieber die Hände vor dem Körper zusammenlegen und sich verbeugen, gelte schließlich weder als unhöflich noch als provokativ.

Stehe bei einem Jugendlichen aber die Auffassung dahinter, „Frauen sind es nicht wert, von mir berührt zu werden“, sollte man das ausdiskutieren, sagt Tiedemann. Dann müsse die Schule vermitteln, dass sich die deutsche Gesellschaft entschieden habe, die Geschlechter als gleichwertig zu betrachten. „Und diese Gesellschaft finanziert auch deine Bildung, also entscheide dich“, könnte ein Argument lauten.

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