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Werner Hamacher an der European Graduate School, an der er 15 Jahre lang aktiv war.

©  European Graduate School

Nachruf: „Das habe ich so nicht gesagt“

Eine Notiz zum Abschied von dem großen Komparatisten Werner Hamacher.

Literaturwissenschaft ist eine persönliche Angelegenheit. Zumindest erlebte ich sie stets als an jene wenigen Charismatiker gebunden, die immer auch die Unlehrbarkeit des Faches gelehrt haben. Als ich meinem ersten akademischen Lehrer Werner Hamacher im Wintersemester 2008 in einem Komparatistikseminar begegnete, wusste ich nur wenig von dieser fröhlichen Wissenschaft. Zur Vorbereitung war uns ein Grundlagentext moderner Hermeneutik aufgegeben: „Über philologische Erkenntnis“ von Peter Szondi, Hamachers Lehrer an der FU Berlin. Ich bildete mir ein, zu verstehen, was Szondi meinte, wenn er schrieb, „dass das philologische Wissen auch vom historischen sich grundsätzlich unterscheidet“ und „perpetuierte Erkenntnis“ sein sollte.

Aber Hamachers Kommentierung verunklarte selbst die Einbildung. Er hatte es gleich in den ersten Minuten unserer Begegnung fertiggebracht, mir nahezulegen, das Studium aufzugeben, noch bevor es angefangen hatte. Aber die von ihm ausgehende Inspiration hatte mich schon gepackt, der Hamachersche „Chock“ wurde mein ständiger Seminar- und Lektürebegleiter.

Bis zu seiner Emeritierung im Sommer 2013 konnte ich nur staunen über seine Denkpirouetten, die genauso unvergesslich waren wie seine Handgesten. Auf seine Hände schauend, wussten alle, dieser Mensch dort vorne kann nur so sein, wie er ist, kann nur so denken, wie er denkt, kann nur so schreiben, wie er schreibt: seiner eigenen Wahrheit nahe.

Sein Blick war detailversessen

Er wollte, dass wir uns an den Seminaren beteiligen, aber seine Monologe rissen nicht ab. Aber welche Einwände hätten wir vorbringen können, wenn selbst profilierte Denker seine wasserdichten Analysen nicht anzurühren vermochten? Und wenn sie es doch taten, dann in einer Ablehnung der gesamten sogenannten Dekonstruktion. Das wird dem Werk Werner Hamachers nicht gerecht. Dafür war sein Blick auf Texte, insbesondere auf jene seit der Aufklärung, zu genau und zu detailversessen. Dieser Hände-Blick gehörte „einem einmaligen und sterblichen Seelenwesen, das mit seiner Stimme und seiner Stummheit einen Weg sucht“, wie es in einem seiner Texte heißt.

In unzähligen Selbstgesprächen hat er vorgemacht, was „perpetuierte Erkenntnis“ bedeutet: Immer wieder sprach er den Protokollanten nach Verlesen des Protokolls der jeweils letzten Sitzung mit den Worten an: „Das habe ich so nicht gesagt.“ Das hatte mit der Ungenauigkeit des Protokollanten zu tun, aber es war auch ein demonstrativer Selbstwiderspruch, der zu ihm gehörte wie das weite Repertoire der Inszenierung des Unfertigen und Fortzuführenden: Vor allem bei Vorträgen hieß es, der Text sei noch nicht fertig, er sei „noch nicht beim Friseur“ gewesen. Höhepunkt dieser Inszenierung dürfte sein Aufsatz „In letzter Sekunde“ aus dem Band „Wer hat Angst vor der Philosophie“ gewesen sein. Er habe bis zur letzten Sekunde daran geschrieben, behauptete er. Der Aufsatz besteht nur aus Fragesätzen, natürlich druckreifen.

Er hat niemanden an sich herangelassen

Seine Komparatistik sollte als „Koryphäenfach“ wieder der Germanistik eingegliedert werden. Denn es wurde eine Überlegenheit der Nationalphilologie Germanistik über die Transnationalphilologie Komparatistik angenommen. Das war absurd. Auf universitätspolitischer Ebene war das Argument verständlich, weil es um Drittmittel und Partikularinteressen ging. Und doch sah sich Hamacher an diesem existenziellen Punkt der Frankfurter Komparatistik auf die Texte seiner Lehrer und Freunde zurückgeworfen. Er reihte sich noch einmal in die Linie einer Strömung ein, deren utopisches Potenzial unverkennbar ist: „Freie (das heißt freie) Universität“ (Szondi), „Die unbedingte Universität“ (Derrida), „Freistätte“ (Hamacher). Eine Provokation, die sich langsam, aber sicher in die Wirklichkeit hineinkippelt, steht am Anfang seiner Ausführungen: „Es ist nicht mehr gesichert, dass es Universitäten gibt.“ Dieser im Alter (wie sein Pariser Lehrer, der Philosoph Jacques Derrida) weißhaarige Querkopf war vielen unangenehm: Er wusste zu viel, er konnte zu viel, er war zu eigenständig, und er war bereit, für seine Eigenständigkeit zu kämpfen.

Er hat niemanden wirklich an sich herangelassen. Deshalb gibt es vielleicht auch keine sogenannte Hamacher-Schule. Seine einzige Erwartung an jeden war: Eigenständigkeit. Um die zu erreichen, bedarf es auch der Kunst, Abschied zu nehmen. Kurz vor seiner Emeritierung hat er sie noch einmal inszeniert, als eine jener „Wandlungsfiguren“, die nur als „Nullzeichen“ und „Narren“ agieren können. „Proteus, Kabiren, Trickster, Zwerge, vom Körper abtrennbares Kleines“ hieß eines seiner beiden letzten Seminare. Damit erzählte er uns auch seine eigene „Gestaltwandlungsgeschichte“. Das andere hieß „Schmerzen, Klagen“, und wir sprachen auch über Gershom Scholems Text „Über Klage und Klagelieder“.

Noch im Mai 2016 schrieb er mir zu Texten, die ich ihm schickte: „Es ist mehr Abschied in ihnen als Anfang, in diesem Abschied mehr Resignation als Erleichterung, in dieser Resignation mehr Kummer über (mutmaßlich) Verlorenes als Stolz auf die schon zurückgelegte Entfernung.“ Ich dachte, einen Punkt in meinem Verhältnis zu Werner Hamacher erreicht zu haben, an dem die akademische Distanz porös wird.

Dann musste er sich in relativ kurzer Zeit dem allzu menschlichen Lebensimperativ tu meurs beugen, der einen zum Verstummen bringt: „Tumeur de la langue, das, was alles Sprechen mit sich zieht. Das, was Verstehen nötig und unmöglich macht.“ Tu meurs de la langue.

Von Alexandru Bulucz

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