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Expedition in den Verstand. Mancherorts arbeiten Biologen, Psychologen und Philosophen in der Hirnforschung zusammen.

© KM Sands - Fotolia

Neurobiologie: Der Geist aus der Maschine

Ohne das Gehirn gibt es kein Bewusstsein: Warum die philosophische Kritik an der Neurobiologie ins Leere läuft.

In einem kürzlich veröffentlichten Buch mit dem Titel „Mythos Determinismus – Wieviel erklärt uns die Hirnforschung?“ geht die Dortmunder Philosophin Brigitte Falkenburg scharf mit den Neurobiologen ins Gericht, die in ihren Augen einem verwerflichen „Neurodeterminismus“ und Reduktionismus anhängen und behaupten, sie könnten neuronale (nervliche) Mechanismen angeben, wie im Gehirn Geist und Bewusstsein entstehen.

Falkenburgs Fazit nach knapp 400 Seiten ist scheinbar vernichtend: „Die kognitive Neurowissenschaft kann nach ihrem derzeitigen Stand keinen neuronalen Mechanismus vorweisen – egal ob strikt deterministisch oder nicht –, der erklären könnte, wie das Bewusstsein aus dem neuronalen Geschehen hervorgeht.“ Und die Hoffnung, ein solches Ziel könne irgendwann einmal, wenn die Neurowissenschaftler ihren schädlichen Determinismus aufgeben und philosophisch korrekter arbeiteten, erreicht werden, ist vergeblich, denn „das Bewusstsein ist und bleibt rätselhaft“. Geist und Bewusstsein seien zu physischen Phänomenen „inkommensurabel“, durch gar nichts und in keiner Weise in Beziehung zu setzen.

Das ist aus dem Munde einer promovierten Physikerin starker Tobak. Man muss jedoch fragen, wer von diesen Neurobiologen das behauptet, was unterstellt wird. Bei den „Neurodeterministen“ und Reduktionisten geht es um Wolf Singer vom Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt am Main und mich. Frau Falkenburg belegt jedoch mit keinem einzigen Zitat die Behauptung, ich hinge zum einem der Anschauung an, im Gehirn ginge es im klassischen Sinne streng deterministisch zu, und zum anderen, man könne geistig-kognitive Funktionen auf neuronale Prozesse reduzieren.

Vielmehr glaube ich, dass wir derzeit nicht entscheiden können, ob alle Gehirnprozesse deterministisch ablaufen. Es ist die Frage, ob dies wegen der ungeheuren Komplexität der Hirnprozesse je möglich sein wird. Einen klassischen Reduktionismus („Geist ist nichts anderes als das Feuern von Neuronen“) halte ich für falsch. Das „Feuern von Nervenzellen“) und das Selbst-Erleben geistiger Zustände wie Wahrnehmen, Denken, Erinnern und Vorstellen sind nun einmal nicht identisch. Auch wenn – wie manche Philosophen glauben – es sich hier nur um zwei Seiten einer Medaille handeln sollte, zwei Aspekte eines unbekannten Dritten.

Man kann sich als Neurobiologe und Philosoph über ein Buch wie das von Frau Falkenburg ärgern, insbesondere über die vielen Passagen, in denen sich Kenntnislücken hinsichtlich neurobiologischer Forschung zeigen. Man kann sich aber auch ernsthaft fragen, wo die Ressentiments herrühren, die Philosophen der Hirnforschung gegenüber hegen. Man muss zugeben, dass Hirnforscher wohl nicht genügend oder nicht plakativ genug über die Bedingungen ihrer Suche nach den neuronalen Grundlagen geistig-psychischer Vorgänge nachgedacht haben. Dabei ist die Frage nach einem Neurodeterminismus eher nebensächlich, denn – wie angedeutet – dies kann wahrscheinlich empirisch nicht entschieden werden.

Der Experte hat allerdings den Eindruck, dass Hirnprozesse, als eindeutig makrophysikalische Prozesse, sich eher klassisch-deterministisch verhalten, und dass dasjenige, was als von manchen philosophierenden Autoren als „indeterministische Prozesse“ im Gehirn interpretiert wird, etwa das Ausschütten von Botenstoffen an Nervenkontakten, nicht wirklich unbestimmbar, also indeterministisch, sondern hochkomplex und deshalb nicht präzise vorhersagbar oder auch nur beschreibbar ist.

Modellierungen zeigen, dass es auf der Ebene von neuronalen Prozessen, die mit Bewusstsein oder Verhaltenssteuerung zu tun haben, um Millionen bis Milliarden von Synapsen geht. Jeder molekulare Indeterminismus (wenn er denn existierte) müsste sich ausmitteln. Dafür spricht, dass Sinnesorgane und Muskulatur mit großer Präzision funktionieren – vielleicht aufgrund vielfacher Mittelung teilweise indeterministischer Prozesse.

Wichtig ist hingegen die Frage, was eine neurobiologische Erklärung von Geist und Bewusstsein sein könnte. Philosophen wie Falkenburg gehen davon aus, dass die interessierten Neurobiologen nach irgendeinem physikalisch-physiologischen Mechanismus suchen, der dann Bewusstsein hervorbringt wie eine Lampe das Licht, sofern Strom fließt. Es mag sein, dass es Neurobiologen oder Neurotheoretiker gibt, die so denken, aber die meisten Neurobiologen sind hier eher zurückhaltend. Für sie geht es um eine viel einfachere und zugleich grundlegendere Frage, nämlich inwieweit man nervliche und mentale, geistig-psychische Zustände und Vorgänge verbinden kann. Ist dies möglich, so ist dies nicht nur von philosophischer, sondern auch von eminenter praktischer Bedeutung, etwa für das Forschen nach den Grundlagen psychischer Erkrankungen.

Ein Beispiel aus meiner Forschung: Bei psychischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen ist das limbische System betroffen. Zentren, die mit negativen Gefühlen und impulsivem Verhalten einhergehen, sind überaktiv. Zentren, die mit positiven, beruhigenden und impulshemmenden Gefühlen verknüpft sind, erscheinen dagegen wie gelähmt. Inzwischen kann man auch auf der Ebene der Zellen und Moleküle untersuchen, was dort gestört ist, etwa Stressverarbeitung (das Cortisol-System), Selbstberuhigung (das Serotonin-System) und Bindung (das Oxytocin-System). Und schließlich kann man untersuchen, was die Ursachen sind. Hier stellt sich zunehmend klarer heraus, dass sie auf einer komplexen Wechselwirkung zwischen genetischen Vorbedingungen und negativen Umwelteinwirkungen beruhen. Man kann heute besser verstehen, welche Bedingungen das Entstehen psychischer Erkrankungen oder etwa Gewalttäterschaft wahrscheinlicher machen und ob, wie und wie sehr Psychopharmaka und Psychotherapien wirken.

Kein beteiligter Forscher würde behaupten, hier sei alles schon geklärt, aber zu sagen, der Zusammenhang zwischen psychischen Zuständen und Hirnvorgängen sei nach wie vor völlig unverstanden, ist grob unwahr. Eine solche Aussage beruht wohl eher darauf, dass es manche besonders kritischen Philosophen nicht für nötig halten, sich genauer mit der Materie zu beschäftigen.

Den kooperierenden Neurobiologen, Psychologen und Psychiatern (und gelegentlich auch Philosophen) geht es gar nicht primär um das Lieblingsanliegen vieler Philosophen, nämlich das „Wesen“ des Geistes zu ergründen. Oder darum, wie genau Geist aus den Neuronen entspringt. Gleichwohl geht es um eine genuin philosophische Frage: wie eng ist der Zusammenhang zwischen neuronalen Prozessen und geistig-psychischen Abläufen? Wird dieser Zusammenhang immer klarer, je mehr wir uns mit der Komplexität der Geschehnisse vertraut machen, oder bleibt ein deutlicher, unerklärlicher Rest? Können wir zunehmend verlässlich vom Auftreten des einen auf das Auftreten des anderen schließen, oder gibt es unüberwindliche Grenzen?

Die Untersuchung dieser Frage lässt sich völlig von derjenigen nach dem Wesen des Geistes trennen. Dies ist kein neues Problem, sondern tritt in der modernen Physik allerorten auf: man stellt zwar gesetzmäßige Zusammenhänge fest, aber bei der Frage nach dem „Wesen“ von Licht, Materie und Schwerkraft ist niemand weitergekommen, weil dies keine naturwissenschaftliche Frage ist.

Dinge und Prozesse sind für den Naturwissenschaftler das, was sie in Experimenten und Beobachtungen an Eigenschaften enthüllen. Nach einem „Wesen“ suchen sie nicht. Gehirne und geistige Zustände treten in engster Verknüpfung auf, und obwohl Letztere als physikalische Phänomene angesehen werden, lassen sie sich nicht aufeinander reduzieren.

Es genügt nachzuweisen, dass die unauflösliche Beziehung von Gehirnen und geistigen Zuständen nicht die Prinzipien der Physik verletzen. Ob es im Gehirn deterministisch oder nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit zugeht, ist ein Problem, das die Grundannahme der Neurobiologie, „kein Geist ohne Gehirn“ nicht berührt. Niemand kann von der Neurobiologie eine hundertprozentige Erklärungs- und Voraussagekraft verlangen.

Geistige Zustände mögen höchst eigenartig sein, aber sie unterliegen physikalischen Gesetzmäßigkeiten. So verbraucht unser Gehirn umso mehr Sauerstoff und Zucker, je intensiver wir nachdenken. Kein Philosoph, der sich mit dem Erkenntnisstand der Neurobiologie vertraut gemacht hat, hat bisher ernsthaft eine unüberwindliche Erklärungslücke benennen können, außer in Hinblick auf das „Wesen“ des Geistes. Aber das kann ein Physiker in Hinblick auf die Schwerkraft auch nicht und nimmt dies gelassen hin. Das sollten die Philosophen in Hinblick auf die Hirnforschung auch tun.

Der Autor leitet das Zentrum für Kognitionswissenschaften an der Universität Bremen.

Gerhard Roth

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