zum Hauptinhalt

Neurologe Andreas Finck zur Fehldiagnose Wachkoma.: "So etwas darf nicht mehr passieren"

Ein vermeintlicher Wachkoma-Patient aus Belgien hat mehr als 20 Jahre lang unbemerkt bei fast vollem Bewusstsein verbracht. Er war komplett gelähmt und konnte sich nicht mitteilen.

Ärzte und Pfleger hatten den heute 46-jährigen Rom Houben nach einem Autounfall 1983 fälschlich als Wachkoma-Fall eingestuft. In Wirklichkeit litt er unter dem Locked-in-Syndrom, bei dem der Hirnstamm gestört, die Großhirnfunktion jedoch erhalten ist. Inzwischen verständigt sich Houben über einen Computer mit Spezialtastatur. Ein Gespräch über das Wachkoma mit dem Berliner Neurologen Andreas Finck.

Dass man schreit, ohne gehört zu werden, dass man bei Bewusstsein ist, alle anderen einen aber für geistig weggetreten halten, ist eine Horrorvorstellung. Was löst die Nachricht in einem Neurologen aus?

Auch mich berührt das sehr. Ich habe eine ganze Reihe von Patienten mit einem Locked-in-Syndrom betreut. Es ist so, wie es im Buch und Film „Schmetterling und Taucherglocke“ gezeigt wird: Die Betroffenen sind der Umwelt zunächst ausgeliefert, die fälschlich meint, sie lägen im Koma. Das muss die denkbar größte Qual sein: sich nicht bewegen zu können, dabei aber vollkommen empfindungsfähig zu sein. Beim Wachkoma liegen die Dinge grundlegend anders.

Wie kann es dann zu einer so schwerwiegenden Verwechslung kommen?

Man muss bedenken, dass die Diagnose vor über 20 Jahren gestellt wurde. Damals war es deutlich schwieriger, ein Locked-in-Syndrom festzustellen. Heutzutage sollte das mit der modernen Bildgebung eigentlich kein Problem sein. Die Diagnostik ist so ausgereift und so leicht durchzuführen, dass schon alles gründlich falsch laufen müsste, damit Ähnliches heute vorkommt.

Der Neurologe Steven Laureys von der Universität Lüttich, der Houben jetzt untersuchte, veröffentlichte eine Studie, in der er zu dem Schluss kommt, dass es erschreckend viele Wachkoma-Fehldiagnosen gebe. In rund 40 Prozent aller Fälle seien Bewusstseinsreste nachweisbar. Und man hört immer wieder, dass ein Wachkoma-Patient nach Jahren „aufwacht“.

Wir wissen heute, dass sich das Gehirn in einem gewissen Umfang regenerieren kann. Und wir kennen Patienten, die im Wachkoma sind und noch über Reste von Großhirnfunktionen verfügen. Sie zeigen sich bei Außenreizen in der Aufzeichnung der Hirnströme oder in der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie. In der Rehabilitation können sich langfristig winzige Fortschritte ergeben. Meist bedeutet das aber leider keine entscheidende Veränderung: Die katastrophale Diagnose schwere Hirnschädigung ändert sich dadurch nicht.

Angehörige und Pflegekräfte, die Wachkomapatienten betreuen, berichten von erstaunlichen Reaktionen. Sie sagen zum Beispiel: Er hat mich angelächelt.

Das ist in den allermeisten Fällen Wunschdenken, ein sehr verständliches und menschliches. Schließlich bemühen sich die Angehörigen und die Pflegekräfte monate- und jahrelang immer wieder, Kontakte zu dem Kranken herzustellen. Jede noch so kleine Verbesserung wird da positiv aufgegriffen. Und es ist auf jeden Fall richtig, sich gegenüber einem Patienten im Wachkoma so zu verhalten, als würde er alles verstehen.

Wie schnell kann man die Diagnose „Wachkoma“ stellen?

Das hängt davon ab, wie das Gehirn geschädigt wurde. Wenn sich die Hirnfunktion nach einem Schaden durch schweren Sauerstoffmangel, etwa nach einem Herzinfarkt, nicht in sechs Tagen verbessert, ist die Prognose eher ungünstig. Bei schweren Hirnverletzungen, etwa nach einem Verkehrsunfall, sind die Chancen für eine Erholung deutlich größer, dann muss man mit der Diagnose erst einmal sechs Wochen warten. Sind Entzündungen des Gehirns oder der Hirnhaut die Ursache, dann können sich dessen Funktionen sogar in den ersten sechs Monaten noch drastisch verbessern.

Viele Menschen legen in einer Patientenverfügung fest, dass sie keine Behandlung mehr wünschen, falls sich herausstellt, dass sie das Bewusstsein nicht mehr erlangen. Kann man das so klar vorher sagen?

Ja, das kann man. Voraussetzung ist, dass ein erfahrener Gutachter die Krankenakte sorgfältig studiert und den Patienten, der schon einige Zeit im Wachkoma liegt, genau untersucht. Noch einmal zurück zum belgischen Fall, der ganz anders gelagert ist: Da wurde die Situation zu Beginn falsch eingeschätzt und nicht infrage gestellt. So etwas darf nicht mehr passieren, denn wir können Gehirnkrankheiten sicher einordnen.

Das Gespräch führte Adelheid Müller-Lissner.

Andreas Fink ist Neurologe und ehemaliger Leiter der Klinik für Neurologie im Vivantes-Klinikum Am Urban.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false