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Neurowissenschaft: Das trügerische Gefühl, frei zu entscheiden

Manches Verhalten folgt inneren Zwängen – kann man dann überhaupt noch von Schuld sprechen?

„Für Wahrhaftigkeit braucht man starke Nerven“, sagt der Mainzer Philosoph Thomas Metzinger. Persönlich hat er die zum Beispiel vor einigen Jahren bewiesen, als er sich bewusst nicht an der Debatte um Hirnforschung und Willensfreiheit beteiligte, die im Feuilleton einer deutschen Tageszeitung angefacht wurde. „Sie hat nur zum Austausch von Bosheiten geführt“, sagt Metzinger rückblickend.

Mittlerweile ist die Diskussion über die Auswirkungen neurowissenschaftlicher Befunde auf unser Bild von der menschlichen Person und ihren Entscheidungsbefugnissen einen deutlichen Schritt weitergekommen. „Die Debatte wird differenzierter, marktschreierische Äußerungen sind seltener“, sagt etwa der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel von der Universität Hamburg.

In diesem Sinne argumentierten die Wissenschaftler auch am Mittwochabend bei der Charité-Ringvorlesung zur „Evolution der Medizin“ aus Anlass des 300-jährigen Charité-Jubiläums. Subjektiv – darin waren sich alle Redner des Abends einig – erleben wir uns als Wesen, die frei sind, zwischen mehreren Möglichkeiten zu wählen. Wesen, die selbst entscheiden. Doch wer ist dieses „Selbst“? Auf jeden Fall ist es als Selbstbild in unseren Gehirnen präsent. „Das Gehirn funktioniert allerdings nach Regeln, die wir Menschen nicht gemacht haben“, konstatierte Merkel.

Das fällt besonders auf, wenn Details des Regelwerks nicht „stimmen“. Wie zum Beispiel bei Menschen mit dem seltenen Williams-Beuren-Syndrom: Aufgrund einer genetischen Besonderheit können sie Gefahrenreize nicht erkennen. In Situationen, in denen andere Angst haben oder sich zum Kampf rüsten, feuert der Mandelkern ihres Gehirns nur unzureichend Signale.

„Die Betroffenen sind genetisch bedingt zu freundlich, also sozusagen so unberlinerisch wie nur denkbar“, sagte Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim und derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg. In der Regel sei menschliches Verhalten aber nicht dermaßen festgelegt. „Jeder von uns trägt zahlreiche verhaltensrelevante genetische Varianten, sie determinieren allerdings nicht, sondern sie modulieren unser Verhalten“, sagte der Psychiater. Wie sich die „Neuro-Gene“ auswirken, das hänge nicht zuletzt auch von der bisherigen Lebenserfahrung ab.

Doch kann man unter diesen Umständen einen Täter bestrafen, dessen Gewaltbereitschaft etwa durch einen angeborenen niedrigen Gehalt des Hirnenzyms MAO-A erhöht ist? Und der noch dazu von Kindesbeinen an mit Gewalt und schlechter Behandlung konfrontiert wurde, die sich in sein Gehirn „eingebrannt“ haben? Muss man nicht darüber hinaus grundsätzlich bezweifeln, dass je ein Mensch sich für ein Verbrechen „frei“ entschieden hat und deshalb Strafe „verdient“?

Das Strafrecht verteidige nicht Güter, sondern handfeste Interessen der Gesellschaft, setzte Merkel dagegen. „Die Strafe ist eine symbolische Reparatur der gebrochenen Norm.“ Trotzdem bleibe ein ungutes Gefühl, weil zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit heute auch die Annahme gehöre, der Täter hätte im konkreten Fall auch anders handeln können. „Hier gibt es einen ‚peinlichen Rest’, um mit Goethe zu sprechen“, sagte Merkel.

Das Unbehagen entstammt nicht zuletzt den Erkenntnissen, die wir der modernen Bildgebung verdanken. „Wenn wir die Aktivitätsmuster des Stirnhirns kennen, die für eine bestimmte Art von Entscheidung typisch sind, können wir sie voraussagen, und zwar einige Sekunden bevor die Person selbst darüber Bescheid weiß“, berichtete John Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computional Neuroscience in Berlin.

Bisher gilt das allerdings nur für einfache Teilentscheidungen, und noch nicht einmal da ist die Prognose sicher. Beunruhigend ist aber, dass durch Stimulation bestimmter Hirnregionen in Versuchspersonen Absichten erzeugt werden können, die sie anschließend für ihre eigenen halten. Ist das, was sich daraus ergibt, noch ihre Handlung?

„Wenn eine starke Definition des Determinismus wahr ist, dann gibt es überhaupt nur Ereignisse, aber keine Handlungen in dieser Welt“, sagte der Philosoph Metzinger. Und fügte hinzu: „Die Situation ist dramatischer, als viele Leute denken.“

In den Augen des Philosophen ist es höchste Zeit, die neuen Erkenntnisse – und die manipulativen Möglichkeiten, die sich aus ihnen ergeben – in eine „kulturelle Evolution“ einzubetten. „Wir müssen uns fragen, welche Bewusstseinszustände wir fördern wollen, welche wir unseren Kindern zeigen, welche illegal sein sollen und in welchen wir sterben möchten.“ Alte Fragen der philosophischen Ethik, die sich nun in neuem Licht stellen.

„Pharmakogenetik – der Weg zur maßgeschneiderten, personalisierten Arzneitherapie“ ist Thema der nächsten Vorlesung zur „Evolution der Medizin“ am 1. Juli um 19 Uhr im Langenbeck-Virchow-Haus, Luisenstraße 58/59, 10117 Berlin.

Adelheid Müller-Lissner

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