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Zwischen Traum und Wirklichkeit: Eine Frau sitzt auf einem Dachfirst über den Dächern einer Großstadt.

© Sergey Nivens - Fotolia

Neurowissenschaft: Die Kunst des Klartraums

Alles ist wirklich. Alles ist erträumt. Im Klartraum beschreiben diese Sätze keinen Widerspruch. Der Zustand ist ein Zwitter aus Schlafen und Wachen. Man kann ihn sogar gezielt erzeugen.

Als Richard Feynman, der spätere Physiknobelpreisträger, ein kleiner Junge war, gab ihm sein Vater ein Rätsel auf: „Stell dir vor, Marsmenschen kommen uns besuchen. Sie schlafen nie und wollen wissen, wie es sich anfühlt zu schlafen. Wie erklärst du es ihnen?“

Der kleine Richard wusste es natürlich nicht zu sagen. Die Frage wurde auch nicht dadurch beantwortet, dass sein Vater behauptete, im Schlaf käme alle Verstandestätigkeit zum Erliegen; so dachte man in den 1930er Jahren. Aber Feynman war schon in jungen Jahren ein ungewöhnlich kritischer Geist, und wenn er ein Problem lösen wollte, dann ließ es ihm keine Ruhe. Über ein Jahrzehnt später kam er dem Geheimnis in einem langweiligen Universitätsseminar unverhofft näher. Der Vortrag des Professors hatte sich in ein monotones Murmeln verwandelt. Feynman war eingedöst, und konnte doch beobachten, was in ihm vorging.

In den nächsten vier Wochen machte er es sich zur Gewohnheit, sich nachmittags hinzulegen und den Übergang in den Schlaf aufmerksam zu verfolgen. Und mit einem Mal bemerkte er in einem Traum, dass er träumte. Er sah sich auf dem Dach eines Eisenbahnwagens, der auf einen Tunnel zufuhr. Er spürte seine Angst. Er wusste jedoch auch, dass er sich nur ducken musste. Er erlebte das Schwanken des Wagens.

"Ich konnte meinen Traum lenken!"

Nun befand er sich in dem Waggon. Durch eine große Glasscheibe erblickte er drei attraktive Mädchen im Badeanzug. Er ging an ihnen vorbei in den nächsten Wagen. Aber warum eigentlich sollte er sich den reizvollen Anblick entgehen lassen? „Da entdeckte ich, dass ich umdrehen konnte. Ich konnte meinen Traum lenken!“ Er kehrte in den Waggon mit dem aussichtsreichen Fenster zurück. „Ich war erregt, sagte mir Sätze wie: ,Wow, es funktioniert!’, und erwachte.“

Fast die Hälfte aller Menschen gibt bei Befragungen an, sie hätten mindestens einmal im Leben eine ähnliche Erfahrung gemacht: Ihnen sei im Traum aufgefallen, dass sie träumen. Richard Feynman dürfte allerdings lange Zeit der einzige Wissenschaftler von Weltrang gewesen sein, der an die Existenz solcher Klarträume glaubte. Für andere Gelehrte waren solche Erzählungen nichts als Fantasterei. Dass es möglich sein könnte, im Traum bei vollem Bewusstsein zu sein und diesen sogar zu lenken, widersprach allem, was man über den Schlaf zu wissen glaubte. Wie, fragten die Skeptiker, sollte man jemals feststellen können, ob Klarträume mehr als nur Schwindel oder Einbildung sind?

Im Jahr 1975 kamen zwei englische Psychologen, Keith Hearne und Alan Worsley, auf den Gedanken, dass ein Klarträumer in der Lage sein müsste, aus dem Schlaf eine Botschaft zu schicken: Vielleicht könnte er die schnellen Augenbewegungen während der besonders traumreichen Rem-Phase des Schlafs willentlich lenken. Das war eine kühne Idee, denn der Schläfer müsste nicht nur vorsätzlich seine Muskeln bewegen, sondern sich im Schlaf an die Abmachung erinnern.

Kommunikation aus dem Schlaf heraus

Worsley selbst bot sich als Versuchsperson an. Die beiden Forscher vereinbarten, dass Worsley hinter den geschlossenen Lidern achtmal nach links, achtmal nach rechts schauen sollte, sobald er sich eines Traums bewusst würde. Ein Messgerät zeichnete die Muskelbewegungen auf. Am Morgen des 12. April berichtete der verkabelte Worsley von einem luziden Traum. Hearne sah in den Aufzeichnungen des Messgeräts nach: Eindeutig hatte Worsely zum fraglichen Zeitpunkt seine Augen achtmal in beide Richtungen bewegt! Zum ersten Mal hatte damit ein Mensch aus dem Schlaf heraus kommuniziert. In späteren Versuchen stellte sich heraus, dass luzide Träumer sogar die Luft anhalten können, um ihren Zustand zu signalisieren.

Inzwischen können Forscher Handlungen messen, die sich ein Klarträumer nur vorstellt. Wissenschaftler am Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie baten vor kurzem Probanden mit Klartraum-Erfahrung, einen Tennisball zu erträumen, diesen in die Hand zu nehmen und zusammenzudrücken. Ein Kernspintomograf nahm währenddessen die Hirntätigkeit auf. Und obwohl die ganze Szene nur in der Traumwirklichkeit spielte, obwohl die Hände der Schläfer sich nicht regten, zeigte sich in ihren Köpfen ein Muster an Aktivität, als ob die Versuchspersonen tatsächlich ihre Muskeln anspannen und kräftig mit den Fingern zudrücken würden.

Der Träumer taucht mit allen Sinnen in eine neue Realität ein

Die Erlebnisse im Klartraum sind so intensiv, als ob sie Wirklichkeit wären. Das unterscheidet den luziden Zustand vom Tagtraum, dessen Fantasiebilder blasser als echte Sinneseindrücke erscheinen, und von einem Kinofilm, der nur auf einem Stück Leinwand zweidimensional an uns vorüberzieht. Und auch von einem Computerspiel, das wir ebenfalls nur in einem Ausschnitt unseres Blickfelds erleben. Im Klartraum taucht man mit allen Sinnen in eine selbst erzeugte Realität ein. Als sich Richard Feynman im Eisenbahnwagen umdrehte, schien sich der Raum hinter seinem Rücken fortzusetzen. In einem anderen Klartraum experimentierte er mit einem Reißnagel, der in einem Türrahmen steckte. Wenn er mit seinen Fingern über die Zarge strich, konnte er ihn spüren. Ebenso empfinden Klarträumer heiß und kalt, trocken und nass.

Der britische Psychologe Hugh Callaway hat die Intensität solcher Erlebnisse eindringlich beschrieben: „Die Qualität des Traumes veränderte sich auf eine Weise, die man nur sehr schwer jemandem mitteilen kann, der dieses Erlebnis noch nie hatte. Sofort nahmen Klarheit und Lebendigkeit hundertfach zu. Das Meer, der Himmel und die Bäume hatten noch nie solch eine zauberhafte Schönheit ausgestrahlt; selbst die gewöhnlichen Häuser waren von innerem Leben erfüllt und auf eine mystische Art schön. Nie habe ich mich so wohlgefühlt, so klar im Kopf, und so frei.“

Ein eigenartiger Zwitter aus Schlafen und Wachen

Die neuen Messungen bestätigen solche Berichte. Im Klartraum können Menschen überklar sehen, weil bestimmte Areale am seitlichen Hinterkopf, die zur bewussten Wahrnehmung von Bildern beitragen, außergewöhnlich aktiv sind. Denn der luzide Zustand ist ein eigenartiger Zwitter aus Schlafen und Wachen; er kommt durch eine besondere Konstellation aktiver und abgeschalteter Hirnzentren zustande.

Wenn der Klartraum einsetzt, beschleunigen sich die Wellen der elektrischen Hirnströme bis auf 40 Schwingungen pro Sekunde. Das ist die Frequenz, die diese Wellen auch tagsüber haben. Das Wachbewusstsein bricht in den Schlaf ein. Und das nachts normalerweise heruntergeregelte Stirnhirn, der präfrontale Kortex, erwacht. Dadurch kann der Träumer kritisch denken und seine Aufmerksamkeit lenken. Er gewinnt ein anderes Gefühl für sich selbst als im Traum üblich; während man sonst blindlings Ziele verfolgt und das Wissen um die eigene Identität allenfalls aufblitzt, ist das Ich im Klartraum fast durchgehend präsent. Es kann seinen eigenen Zustand analysieren und erkennt plötzlich: Meine Güte, ich träume!

Einige der schönsten Berichte, die je über Klarträume verfasst wurden, stammen von Mary Arnold-Forster, einer Londoner Schriftstellerin, die in ihrer langen Lebenszeit von 1861 bis 1951 ihren nächtlichen Geisteszustand ausführlich erforschte. Sie erzählt, zu welch verwickelten Gedanken der Verstand im Klartraum imstande ist. Als Tochter des viktorianischen Zeitalters bemühte sich Arnold-Forster sogar, im luziden Traum den Anstand zu wahren.

In einem Flugkleid über der Straße schweben

„Ich sehe mich jetzt immer in meinem Flugkleid – einem Kleid mit dichten, eng anliegenden Falten, die bis mindestens eine Handbreit unter meine Fußsohlen fallen. Als ich nämlich einmal etwas über dem Boden durch belebte Straßen schwebte, dachte ich, es müsse den Menschen auffallen, dass sich meine Füße anders als die ihren bewegen. In der Oxford Street, wo sich viele Leute auf dem Bürgersteig drängten, fürchtete ich, dass ich damit unangenehmes Aufsehen erregen würde“, schrieb sie.

Klarträume beginnen fast immer damit, dass dem Schlafenden eine Unstimmigkeit auffällt. Hugh Callaway erlebte das Meer, den Himmel und die Bäume in einer nie dagewesenen Schönheit, nachdem er sich eines Morgens auf dem Bürgersteig vor seinem Haus stehen sah und bemerkte, dass die Gehwegplatten anders lagen als sonst. Da über Nacht kaum Pflasterer angerückt sein konnten, wurde er sich der einzig möglichen Erklärung bewusst: Es ist ein Traum.

Normalerweise gehen wir an den Merkwürdigkeiten im Traum achtlos vorüber. Eine wirksame Methode, Klarträume herbeizuführen, besteht deshalb darin, tagsüber sein Bewusstsein für Absonderlichkeiten zu schärfen. Das Training besteht einfach darin, sich möglichst oft während des Tages die Frage zu stellen: „Wache ich oder träume ich?“ Entscheidend ist, die Antwort nicht nur zu geben, sondern auch zu begründen. Man kann zum Beispiel nachprüfen, wie es gerade um die eigene Erinnerung steht, ob man sich fest mit der Erde verbunden fühlt oder fliegt, oder ob eine Wand nachgibt, wenn man sich gegen sie lehnt. Und was geschieht, wenn Sie kurz den Blick abschweifen lassen? Sieht dann noch alles aus wie zuvor, oder sind Menschen aus dem Nichts aufgetaucht, Dinge verschwunden?

Das Ziel ist, den Realitätstest so sehr zur Gewohnheit zu machen, dass Sie ihn automatisch ausführen, und zwar buchstäblich im Schlaf. Wenn sich dann, nach ein paar Wochen Übung, bei einer solchen nächtlichen Routineprüfung herausstellt, dass Ihre Hand sechs Finger hat oder Ihr Gesprächspartner schwebt, liegt der Fall klar: Sie sind in einer Traumwelt erwacht.

Auf dem Rücken kam man nicht fliegen

Erstaunlicherweise erfüllen sogar Tests ihren Zweck, die einigen Gedankenaufwand verlangen. Einmal sah ich mich in einem Düsenjet sitzen, der auf dem Rücken flog, und hatte entsprechende Angst. Da schien sich mein Physikerverstand zu regen. Mir ging auf, dass ein Flugzeug keinen Moment so in der Luft bleiben könnte, weil die Strömung an den Tragflächen abrisse. Nun wusste ich, dass die Sache harmlos war, weil ich träumte – und genoss den wilden Flug.

Die Helden im Hollywood-Kultfilm „Inception“ wiederum haben sich an den Umgang mit besonderen Gegenständen, „Totems“ genannt, gewöhnt. So setzt Leonardo DiCaprio als Dominick Cobb immer wieder einen kleinen Kreisel in Gang. Fällt das Spielzeug um, ist Cobb offenbar wach; dreht es sich endlos weiter, weiß er, dass er träumt.

Viele luzide Träumer nutzen diese Einsichten, um das Geschehen zu lenken. So können sie sich in der virtuellen Realität alle erdenklichen Wünsche erfüllen. Aber nicht in jedem Klartraum ist uns solche Gestaltungsfreiheit vergönnt. Ich selbst habe oft nur staunend und voll Spannung die Schönheit der Traumbilder bewundert – kam aber nicht einmal auf die Idee, sie zu verändern.

Regt man das Gehirn elektrisch an, entstehen Klarträume

Im Mai 2014 erregte die Frankfurter Psychologin Ursula Voss mit der Nachricht Aufsehen, dass sich luzide Zustände durch eine elektrische Anregung des Gehirns im Schlaf gezielt auslösen lassen. Die Frequenz des Stroms betrug 40 Schwingungen pro Sekunde; sie entsprach also den Hirnwellen während des Klarträumens und im Wachzustand. Und als hätten die Windungen des Stirnhirns nur auf diesen Impuls gewartet, verfielen die Träumer wirklich in einen luziden Zustand. Ihre Gehirne gaben alle entsprechenden elektrischen Signale von sich, und weckte man die Schläfer nach ein paar Minuten, berichteten sie von einem Klartraum.

Stellte Voss hingegen eine andere Frequenz ein oder schaltete sie das Gerät ab, blieben die Klarträume aus. Zweifellos hatten also die 40-Hertz-Schwingungen den besonderen Bewusstseinszustand ausgelöst. Ohne den Traum zu unterbrechen, aktivierten sie genau die Regionen des Großhirns, die für Handlungskontrolle und bewusste Erinnerung zuständig sind. So konnten die Versuchspersonen die Kontrolle über ihre Träume erlangen.

Zum ersten Mal ist es damit gelungen, Menschen gezielt in jenen Grenzbereich zu führen, wo sich wache Vernunft mit dem unbegrenzten Erfindungsreichtum des Träumens verbindet. Dieser Erfolg verspricht nicht nur neue Trainingsmethoden oder wirkungsvollere Psychotherapien, sondern könnte ungeahnte schöpferische Kräfte im Menschen freisetzen. Werden wir noch fernsehen, ins Kino gehen oder reisen, wenn wir erst die Möglichkeit haben, uns auf Knopfdruck im Schlaf jedes ersehnte Erlebnis zu verschaffen? Tüftler denken bereits darüber nach, eine brauchbare Klartraummaschine in Serie fertigen zu lassen.

Der Autor hat ein Buch zum Thema veröffentlicht: Stefan Klein: Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit. S. Fischer, Frankfurt am Main, 2014. 320 Seiten, 19,99 Euro.

Stefan Klein

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