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Animation eines Wirkstoffs zur Blutgerinnung

© Abb.: Bayer HealthCare

Nobelpreis für Chemie 2013: Sieg der Simulanten

Die Preisträger Karplus, Warshel und Levitt entwarfen Verfahren, die chemische Reaktionen im Rechner nachspielen.

Die Zelle – unendliche Weiten. Seit Jahrzehnten ergründen Biologen, Chemiker und Physiker ihren Mikrokosmos, die Vielfalt ihrer Bausteine und der Vorgänge in ihrem Inneren. Der Nobelpreis für Chemie geht in diesem Jahr an drei Wissenschaftler, die Verfahren entwickelt haben, mit deren Hilfe man das molekulare Universum der Zelle noch besser erhellen und verstehen kann. Martin Karplus, Michael Levitt und Arieh Warshel legten die Grundlagen für Computersimulationen von Molekülen und ihren chemischen Reaktionen. Sie waren entscheidend daran beteiligt, dass Modelle von Materiebausteinen nicht mehr mühsam mit Steckbaukästen zusammengesetzt werden müssen, sondern heute scheinbar mühelos im Rechner entstehen und auch noch zu digitalem Leben erweckt werden.

Die große Entdeckungsfahrt ins Zentrum des Lebens begann Mitte des 20. Jahrhunderts, als James Watson und Francis Crick den Aufbau des Erbmoleküls DNS offenlegten. Das Foto der beiden Forscher vor ihrem spiralförmigen Steckmodell aus Metallstäben, Klemmen und Blechwaben ging um die Welt. Watson und Crick arbeiteten an der Universität Cambridge, und dorthin zog es 1968 auch den jungen Michael Levitt. Zu jener Zeit war Cambridge das Mekka der Molekularbiologie geworden. Der österreichische Emigrant Max Perutz hatte an der Universität ein Zentrum für Molekularbiologie aufgebaut und mit einem Modell des roten Blutfarbstoffs Hämoglobin ähnliche Pionierarbeit wie Watson und Crick geleistet – nur eben auf dem Gebiet der Eiweißmoleküle, der Proteine.

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Auch Levitt baute mit Feuereifer Moleküle nach. Er suchte sich die zum „Molekül des Jahres“ ernannte Transfer-RNS aus, eine kleeblattförmige Struktur aus fast 2000 Atomen. Zu Hause bastelte er mit Hilfe von Kalotten, kugelförmigen Bausteinen, ein Modell zusammen, das fast einen Zentner wog und das er mühsam aus dem Fenster des ersten Stocks seines Hauses hinunterlassen musste, „wobei es meiner Frau schwerfiel, nicht in lautes Gelächter auszubrechen“, wie sich Levitt später erinnerte.

Eingefrorene Bilder reichen nicht

Mit dem Heraufdämmern des Computerzeitalters in den 1970er Jahren endete die Ära der Molekül-Modellbauer. Das Studium der Biologie verlagerte sich mehr und mehr „in silico“, in die Siliziumchips der Rechner. Von zentraler Bedeutung sind dabei bis heute die Proteine, weil sie sowohl Bausteine wie auch biochemische Werkzeuge (Enzyme) der Zelle darstellen und bei Krankheiten als nützliche Zielmoleküle für Medikamente, Targets genannt, fungieren.

Proteinmoleküle sind oft Riesenknäuel aus langen Aminosäureketten. Ein kompletter Hämoglobin-Komplex besteht aus mehr als 500 Aminosäuren. Mit Hilfe von zwei Verfahren, der Röntgenstrukturanalyse und der Kernspin-Spektroskopie, erschließen Wissenschaftler die Struktur eines Proteins, wie einst Watson, Crick und Perutz. Allerdings hat diese Struktur einen Schönheitsfehler. „Das Bild, das wir vom Molekül bekommen, ist eingefroren“, sagt der Biochemiker Udo Heinemann vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin. „Es zeigt nicht die ganze Wahrheit.“

Moleküle sind nicht starr wie Eiswürfel, sondern stecken voller Energie, die ihre Gestalt permanent verändert. Hinzu kommt, dass heute nicht mehr nur interessiert, wie ein Molekül aussieht, sondern auch, welche Prozesse im Detail bei einer chemischen Reaktion ablaufen. Genau für diesen Fall haben Karplus, Levitt und Warshel Verfahren entwickelt. Sie erlauben es, komplexe molekulare Prozesse im Computer zu simulieren.

Das Entstehen neuer Moleküle bei chemischen Reaktionen mit dem Computer beobachten

Die Forscher kombinierten dabei das beste aus beiden Welten, wie die Schwedische Akademie der Wissenschaften in ihrem Papier zum Nobelpreis erläutert. Gemeint sind damit Verfahren, die auf der klassischen und der Quantenphysik gründen. Mit der klassischen, auf Newton zurückgehenden Physik werden die größeren Elemente eines Moleküls und seiner Zustände simuliert. „Man kann zum Beispiel nachschauen, wie sich Atome innerhalb von winzigen Bruchteilen einer Sekunde bewegen“, erläutert Heinemann.

Doch eignet sich die klassische Methode nicht, um das Entstehen neuer Moleküle bei einer chemischen Reaktion zu simulieren. Hier kommen quantenchemische Verfahren ins Spiel. Sie erlauben es, Prozesse auf der Ebene der Atomkerne und Elektronen nachzuahmen. Und damit dort, wo sich eine chemische Reaktion abspielt.

Allerdings ist das Modellieren dieser Prozesse im Rechner extrem aufwendig. Der Kunstgriff bestand darin, nur das zentrale Element eines Moleküls, an dem eine Reaktion stattfindet, quantenchemisch zu simulieren, das Umfeld dagegen mit Hilfe der klassischen Physik abzubilden. 1972 veröffentlichten Karplus und Warshel erstmals eine Studie, in der sie beide Methoden kombinierten. 1976 publizierten Levitt und Warshel das erste Modell einer enzymatischen Reaktion aus dem Computer.

Wirkstoffmoleküle testet die Pharmaindustrie heute zuerst virtuell

Heute werden überall auf der Welt chemische Reaktionen im Computer simuliert. In Pharmalabors etwa werden Wirkstoffmoleküle zunächst virtuell getestet, ehe sie an Tier und Mensch erprobt werden. So lassen sich Arzneimittel molekular passgenau konstruieren, etwa bei der Entwicklung von Wirkstoffen gegen Proteine des Aids-Erregers HIV.

Michael Levitt denkt längst darüber hinaus. Er träumt davon, im Rechner eines Tages nur aus dem Erbgut eines Lebewesens den kompletten Organismus zu rekonstruieren und „in silico“ nachzubauen. Natürlich liegt das in weiter Ferne. Aber wer hätte 1968 gedacht, dass in wenigen Jahrzehnten zentnerschwere Kalottenmodelle durch federleichte Computerdateien abgelöst würden?

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