zum Hauptinhalt
Sancar erhält den Nobelpreis

© AFP, Sören Andersson

Nobelpreis für Chemie 2015: "Ob man will oder nicht: Man wird zum Vorbild"

Sein Weg nach Stockholm war nicht einfach - doch er forschte beharrlich weiter. Nun wurde er für seine Leistung als erster türkischer Wissenschaftler mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet. Ein Gespräch mit Aziz Sancar.

Professor Sancar, wie war die Nobelpreis-Woche bisher für Sie?

Ziemlich hektisch. Bis zum Dienstag war ich ausgesprochen aufgeregt, bis ich meinen Vortrag in der Aula Magna der Universität Stockholm gehalten hatte. Meine größte Sorge war, dort an das Pult zu treten – als erster türkischer Wissenschaftler, der diesen Preis bekommt. Ich hatte Angst, mein Land zu blamieren oder mich selbst oder die Universität von North Carolina in Chapel Hill, wo ich arbeite. Schließlich ist auch mein Chef hier! Hinterher haben mir alle gesagt, dass es ein großartiger Vortrag war. Und ich war glücklich, dass ich die Ehre, die mir zuteil wird, verdiene. Nun macht es mir nichts aus, sehr beschäftigt zu sein. Die Feierlichkeiten am 10. Dezember – die eigentliche Verleihung – machen mich nicht nervös.

Wen haben Sie nach Stockholm mitgebracht?

Meine Frau und meine Patentochter, außerdem meinen Chef, eine Kollegin, mit der ich seit 15 Jahren zusammenarbeite und ihren Mann. Aus der Türkei kamen eine Nichte und ein Neffe mit seinem Sohn hierher. Er ist nach mir benannt. Und türkische Kollegen.

Rund um den Nobelpreis gibt es unzählige Traditionen …

… und ich mag alles, was ich bisher gesehen habe. Es ist ein bisschen anstrengend für die Preisträger, weil die Nobelstiftung uns sehr verplant. Aber Nobelpreis ist Nobelpreis. Es gibt andere Preise, die mit mehr Geld verbunden sind – aber nichts ist mit dem Nobelpreis vergleichbar. Er hat eine Aura. Traditionen gehören dazu, auch wenn manche ein bisschen ungewöhnlich sind. Das ist OK.

Sie bekommen den Nobelpreis, weil Sie Reparaturmechanismen des Erbgutmoleküls DNS aufgeklärt haben – aber Ihr Weg bis nach Stockholm war sehr ungewöhnlich. Sie wurden als siebtes von acht Kindern in der kleinen Stadt Savur nahe der türkisch-syrischen Grenze geboren. Ihre Eltern konnten weder lesen noch schreiben.

Das ging nicht nur meinen Eltern so. Der erste Weltkrieg dauerte in der Türkei zehn Jahre. Er begann 1911 mit dem Balkan-Krieg. Danach kam noch die Nationale Befreiung. Das Land war also sehr lange im Krieg, alle Ressourcen flossen ins Militär und nicht in die Bildung der Kinder. Es gab kein funktionierendes Schulsystem. Daher blieben meine Eltern ungebildet.

Aber es war ihnen wichtig, dass es den Kindern anders geht?

Ja. Atatürk – der Held aller Türken – hat erkannt, wie wichtig Bildung ist und stellte sicher, dass es überall Lehrer gab. Auch in abgelegenen Regionen. Sehr idealistische Lehrer. Ich hatte Glück, von ihnen unterrichtet zu werden.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Haben Sie als Schüler bereits von der Wissenschaft geträumt?

Nein. Ich war zwar ein guter Schüler, mir fiel das Lernen leicht. Trotzdem wollte ich am liebsten Torhüter der Fußball-Nationalmannschaft werden. Aber dafür war ich nicht groß genug. Also entschied ich mich für die Naturwissenschaft, für Chemie. Es war meine zweite Wahl. 

Studiert haben Sie Medizin.

Das verdanke ich vier engen Schulfreunden. Ich hatte die Eignungsprüfung für Chemie schon bestanden, da überzeugten sie mich davon, auch noch den Medizinertest zu machen. Und bestand wieder. Also studierten wir gemeinsam in Istanbul Medizin. Das war Peer Pressure. Kurz vor dem Abschluss habe ich dann mit meinem Biochemie-Professor gesprochen, weil ich in diese Richtung gehen wollte. Er riet mir, zuerst als Arzt zu praktizieren. Es sei meine Pflicht, meinem Land etwas für diese lange Ausbildung zurückzugeben. Er hatte Recht. Ich ging zurück in meine Heimatstadt und wurde Landarzt.

Hat Ihnen das gefallen?

Sehr! Im Rückblick waren diese zwei Jahre vermutlich die glücklichsten meines Lebens. Ich liebe Kinder. Die Gegend war sehr arm, also bin ich in die Stadt gefahren und habe kleine Plastikspielzeuge für die Kinder gekauft. Ich konnte mit sehr einfachen Mitteln vielen von ihnen das Leben retten. Es gibt nichts Vergleichbares. Wissenschaftliche Entdeckungen sind wichtig, sie schenken Befriedigung. Aber nicht überbietet ein Lächeln auf dem Gesicht eines Kindes. Das ist ein bisschen sentimental. So bin ich eben.

Die Ankunft in den USA war ein Kulturschock

Und trotzdem sind Sie kein Landarzt geblieben, sondern haben sich für die Forschung entschieden.

Es hat mich frustriert, dass ich nicht wusste, warum die eine Therapie hilft und die andere nicht. In den medizinischen Lehrbüchern steht: Wenn Du diese Symptome siehst, dann mache jenes. Aber in den meisten Fällen begründen sie es nicht. Das hat mir Unbehagen verursacht. Daher die Entscheidung für die Wissenschaft. Rückblickend fragt man sich manchmal: War das richtig? Bis heute stelle ich mir diese Frage.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Warum sind Sie in die USA gegangen, um zu forschen?

In der Türkei gab es nicht die Infrastruktur. Und Europa erholte sich immer noch vom Zweiten Weltkrieg. Wissenschaft und die USA waren für mich gleichbedeutend. John Lennon wurde einmal gefragt, warum er unbedingt in die USA wollte (was er wegen Drogenproblemen nicht durfte). Er antwortete: Wenn ich zur Zeit der Römer leben würde, würde ich nach Rom gehen. So habe ich das auch gesehen. Aber der Anfang an der Johns Hopkins Universität in Baltimore war nicht leicht.

Was ist passiert?

Ich hatte einen Kulturschock. In der Schule war meine erste Fremdsprache Französisch. Englisch konnte ich lesen, aber nicht wirklich sprechen. Das war ein Teil. Der andere Teil war, dass ich ausschließlich lernte. So hatte ich das auch im Medizinstudium gemacht, aber da hatte ich meine Freunde von Zuhause als soziales Netz. In den USA kannte ich niemanden und lernte auch niemanden kennen. Ich schlief für einige Monate sogar im Labor – weil ich rund um die Uhr arbeiten wollte und weil ich kein Geld hatte. Das hält man nicht lange durch, ohne in eine persönliche Krise zu rutschen.

Ein Kollege sagte Ihnen, Sie hätten kein Talent für experimentelle Wissenschaft.

Das stimmt! (Sancar lacht.) Das stimmt bis heute. Er war nicht gemein zu mir. Er hat nur gesehen, dass mir Experimente schwer fielen. Ich versuchte, Bakterien zu kultivieren – aber sie wurden immer wieder mit Hefe verunreinigt. Mein Medizinstudium hat mich hervorragend theoretisch vorbereitet, aber ich hatte keine Übung. Also versuchte ich, das durch harte Arbeit zu kompensieren. Und indem ich kreative Lösungen fand. Lösungen, die weniger ausgefeiltes technisches Geschick erfordern. Zwischendurch ging es mir allerdings nicht gut. Ich bin zurück in die Türkei, um mich zu erholen. Als ich nach Amerika zurückkam, war ich reifer. Ich fand amerikanische Freunde.

Und einen Mentor, C. Stan Rupert.

Er war der Grund, an die University von Texas zu gehen. Dr. Rupert hat entdeckt, dass die DNS immer wieder repariert wird. Ich hatte großes Glück, mit ihm zu zusammenzuarbeiten. Außerdem war er ein idealer Mentor. Er kannte meine Limitationen und gab mir doch jede Freiheit. Wenn ich eine Idee hatte und es nicht völlig verrückt war, sagte er: Mach einfach! Das war ein Grund für meinen Erfolg, in seinem Labor und auch später. Er ist heute 96 Jahre alt, wir haben immer noch Kontakt. Ich besuche ihn jedes Jahr zu Weihnachten. Aber auch nach all den Jahren schaffe ich es nicht, ihn beim Vornamen zu nennen. Er wird für mich immer Dr. Rupert bleiben.

Sie haben Ihren Nobel-Vortrag damit begonnen, ihm und anderen Wissenschaftlern zu danken.

Wenn man den Nobelpreis bekommt, werden einem alle Leistungen zugesprochen – dabei haben viele andere zu diesem Erfolg beigetragen. Das ist nicht fair, finde ich. Jeder, der in einem wichtigen Feld arbeitet, profitiert von den Ideen und der Arbeit seiner Kollegen und seiner Konkurrenten.  Und Dr. Rupert: Er hat dieses Feld erst begründet! Francis Crick bezeichnete es einmal als einen seiner großen Fehler, dass er und Watson dachten, die DNS sei ein sehr stabiles Molekül. Eines, das sich nie ändert. Dr. Rupert hat gezeigt, dass das Erbgut beschädigt werden kann – und repariert. Man kann sich gut vorstellen, dass so etwas für einen jungen Wissenschaftler wie mich damals sehr attraktiv war, daran zu forschen. Diese Idee weiter zu verfolgen.

Gab es einen Moment, wo Sie dachten: Jetzt bin ich ein Wissenschaftler?

Allerdings! Die Technik, Gene zu klonen, war gerade in Stanford erfunden worden – und nicht einmal mein Chef wusste davon. Ich verschlang dagegen sofort jeden neuen Fachartikel, der darüber publiziert wurde. Ich wollte das Gen für das Reparaturenzym klonen, an dem wir arbeiteten. Und es gelang! Ich war so aufgeregt, dass ich meinen Professor um zehn Uhr abends Zuhause angerufen habe. Das war für mich extrem ungewöhnlich, mir war die Distanz zwischen mir und dem Professor wichtig. Aber in dem Moment war ich so begeistert, dass ich ihn sprechen musste. Ich merkte, dass ich ein guter Wissenschaftler sein kann.

Der Präsident bestand darauf, mich zu sehen.

Die jüngste Arbeit Ihres Labors ist eine Landkarte der DNS-Reparatur. Weshalb ist das so wichtig?

Das menschliche Genom besteht aus sechs Milliarden Nukleotiden. Mit der Methode, die wir entwickelt haben, kann man jede einzelne dieser Einheiten nehmen und fragen: Wie wird dieser Teil beschädigt und wieder repariert? Und es gibt eine Antwort. Es sieht wirklich wie eine Landkarte aus. Die Berge sind Regionen, in denen viel repariert wird – etwa das Gen p53. Dann gibt es Täler mit wenig Reparatur und tiefe Gräben, wo gar nichts repariert wird. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie das menschliche Genom funktioniert und wie es zu Krankheiten kommt. Wie entsteht ein Krebs? Wie kann man ihn im Wissen um die Reparaturmechanismen besser behandeln? Ich weiß nicht, ob sich noch jemand derart für das Thema begeistert. Aber als wir fertig waren, bestieg ich ein Flugzeug nach Peru, wo ich Urlaub machen wollte. Und ich sagte zu meiner Frau: Wenn das Flugzeug jetzt gegen eine Bergwand kracht, sterbe ich als glücklicher Mann.

Sie hätten nie etwas von Ihrem Nobelpreis erfahren!

Nein, aber diese Karte hat mich wirklich glücklich gemacht. Es war mir sehr wichtig.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Der Nobelpreis hat Ihr Leben vermutlich sehr verändert. Kommen Sie noch dazu zu forschen?

Ich habe trotzdem im November 14 Vorlesungen gehalten, die zuvor geplant waren. Ich wollte das so. Normalerweise treffen wir uns in meinem Labor drei Mal in der Woche – im Moment schaffe ich es nur zu einem oder zwei Treffen. Unser Alltag ist ziemlich aus den Fugen. Dabei würde ich gern so bald wie möglich zurück sein. Wir arbeiten an vier Studien zu Anwendungsmöglichkeiten der Reparaturlandkarte und die sollten wirklich fertig werden.

Wann fliegen Sie zurück?

Eigentlich wollten wir am 14. Dezember wieder in Chapel Hill sein. Aber nun habe ich erfahren, dass der türkische Präsident darauf besteht, mich vor meiner Rückkehr in die USA zu sehen. Also fliegen wir zuerst nach Ankara.

Mit dem Nobelpreis wird man gleichzeitig zu einer gefeierten Persönlichkeit.

Man wird ein bisschen in die Rolle gezwungen. Ob man es will oder nicht: Man wird zum Vorbild. Das ist eine Verantwortung und die muss man wahrnehmen. Aber um ganz ehrlich zu sein: Wenn ich nicht dazu komme zu forschen, werde ich nicht glücklich sein. Mir macht es wirklich Spaß, Neues zu entdecken.

Wie sehen Sie den Zustand der Wissenschaft in der Türkei?

Es wird viel in die Forschung investiert, die Summe ist in den letzten zehn Jahren um das Zehnfache angestiegen. Das ist großartig – auch wenn die Forschung noch nicht auf dem Level der USA oder Deutschlands ist. Aber die Grundlagenforschung hat einen schweren Stand. Das ist meine Botschaft an den Präsidenten: Die Türkei sollte Wissenschaftler ermuntern, in die Grundlagenforschung zu gehen und sie nicht nur nach Anwendungen fragen. Grundlagenforschung macht ein Land wettbewerbsfähig. Die Anwendungen entstehen daraus.

Was wäre Ihr Rat an Studierende?

Wenn sie in die Forschung gehen wollen, sollten sie nicht aufgeben. Und sie sollten darauf vorbereitet sein, immer wieder zu scheitern. Je nach Fach gehen 80 bis 90 Prozent aller Experimente schief. Das erfordert viel harte Arbeit und auch Opfer. Man muss sich entscheiden, wie man sein Leben gestalten will. Familie ist wichtig, Kultur ist wichtig, viele andere Dinge auch. Wenn man in die Forschung geht, vernachlässigt man diese Aspekte des Lebens oft.

Wissen Sie schon, was Sie mit dem Preisgeld machen werden?

Meine Frau und ich haben in Chapel Hill ein türkisches Kulturzentrum gegründet. Es erklärt Amerikanern die türkische Kultur und ist gleichzeitig ein Wohnheim, wo türkische Studenten und Forscher zwei Wochen bis ein Jahr bleiben können. Nun bin ich 69 Jahre alt, meine Frau ist 66. Wir haben uns bisher Sorgen gemacht, wie die langfristige Zukunft dieses Zentrums aussieht. Nun geht das gesamte Preisgeld in dieses Projekt.

Wer Donald Trump hört, dem kann himmelangst werden …

(Lacht.) Ja – und ich hatte eine Anfrage, ihm darauf zu antworten. Aber was soll ich ihm denn sagen? Chapel Hill ist eine großartige Gemeinschaft. Vor kurzem gab mir der Bürgermeister einen Schlüssel zur Stadt und fragte mich, was mir das bedeutet. Sehr viel! Das ist jetzt meine Stadt, ich lebe dort seit 33 Jahren. Es ist eine sehr inklusive, eine fortschrittliche Stadt. Ich kann dort sagen, dass ich muslimisch bin – und stolz darauf. Ohne negative Konsequenzen. Ein paar Tage später wurde mir in einem Cartoon geantwortet: Mr. Sancar sagte, wir sind sehr tolerant. Aber wir hassen das Basketball-Team der Duke University! Das war nett, fand ich.

- Die Fragen stellte: Jana Schlütter. Die Autorin traf Aziz Sancar kurz vor der Nobelpreiszeremonie. Die Reise wurde von der Stadt Stockholm finanziert.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false