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Goldener Herbst. Die Preisträger Andre Geim und Konstantin Novoselov auf dem Gelände ihrer Universität in Manchester.

© Russell Hart/Uni Manchester/dpa

Nobelpreis für Physik: Weltruhm für die Waben

Leicht, stark, elastisch - ein Material revolutioniert die Nanotechnik. Mit simplem Klebeband gelang es Andre Geim und Konstantin Novoselov, das ersehnte Graphen zu gewinnen.

Es sieht aus wie der Draht, den der Gartetennachbar vorm Kaninchenstall gespannt hat, oder wie eine Bienenwabe. In einem regelmäßigen Sechsermuster sind die Kohlenstoffatome angeordnet und bilden einen Stoff namens „Graphen“. Materialforscher setzen große Hoffnungen in dieses Nanogitter, denn es hat faszinierende Eigenschaften: Es ist härter als Stahl und extrem leitfähig. Was man alles damit anstellen könnte! Touchscreens, Transistoren, die mehr als 100-mal schneller umschalten als herkömmliche Bauteile aus Silizium oder leistungsstarke Solarzellen.

In den vergangenen sechs Jahren ist das Forschungsgebiet geradezu „explodiert“. So begründet das Nobelpreiskomitee seine Entscheidung, den höchsten Forschungspreis an jene zwei Physiker zu geben, die – um im Bild zu bleiben – die „Graphenbombe“ gezündet haben.

Andre Geim und Konstantin Novoselov von der Universität Manchester teilen sich das Preisgeld in Höhe von zehn Millionen Kronen (etwa eine Million Euro). Ungewöhnlich für einen Nobelpreis: Die Arbeiten der beiden Forscher sind noch jung, sie wurden 2004 veröffentlicht. Auch die Preisträger, geboren in der damaligen Sowjetunion und heute im Besitz der niederländischen beziehungsweise britischen und russischen Staatsbürgerschaft, sind jung. Geim ist 51, Novoselov gerade 36. Das erklärt sicher auch die ungewöhnliche Reaktion. „Als der Anruf kam, dachte ich: Oh Shit, wie aufregend“, sagte Geim. „Aber dann dachte ich mir, jetzt werde ich all die anderen schönen Preise nicht mehr bekommen.“ Den Rest des Tages wollte der Sohn deutscher Eltern wie gewöhnlich verbringen, zur Arbeit gehen und einige Aufsätze fertigstellen. Daraus dürfte nichts geworden sein.

Geim und Novoselov wird der Preis aus zwei Gründen zugesprochen. Sie haben wichtige physikalische Eigenschaften von Graphen bestimmt, vor allem jedoch haben sie den Stoff überhaupt fassbar gemacht. Das Besondere an dem Material ist, dass es nur eine Atomlage dick ist. Die gestapelte Form von Graphen kennt jeder: Graphit. Es wird beispielsweise für Bleistiftminen verwendet. Fährt man über einen Bogen Papier, lösen sich einige der Schichten. Sehr wahrscheinlich hat jeder von uns beim Zeichnen auch schon einzelne Graphenlagen aufs Papier gebracht. Nur lässt sich das schwer beweisen, sie sind so dünn. Drei Millionen Schichten Graphen müsste man übereinanderlegen, um einen Millimeter starkes Graphit zu erhalten.

Darüberhinaus nützen die Graphensplitter auf dem Papier den Physikern gar nichts. Sie müssen ausreichend große Stücke isolieren, um sie untersuchen zu können. Bis vor wenigen Jahren jedoch waren die meisten Experten überzeugt, dass das unmöglich sei, weil zweidimensionale Strukturen instabil seien.

Geim und Novoselov bewiesen das Gegenteil. Die beiden Physiker brachten immer wieder Klebeband auf einen Graphitkristall und zogen es rasch ab. Anschließend drückten sie das Klebeband auf einen Siliziumkristall und zogen es erneut ab – zurück blieben winzige Kohlenstoffpartikel. Diese vermaßen die Wissenschaftler mithilfe eines Rasterkraftmikroskops, das bis auf einzelne Atome „blicken“ kann. Tatsächlich, zwischen manch dicken Stapeln waren auch Plättchen aus einlagigen Kohlenstoffschichten.

Die Forscher untersuchten die Partikel genauer. Es gelang ihnen, gezielt Strom durch die Plättchen zu schicken und den elektrischen Widerstand zu messen. „Geim und Novoselov haben einzigartige Physik gemacht“, sagt der Kohlenstoffforscher Thomas Seyller von der Universität Erlangen-Nürnberg. „Sie haben unter anderem rausgefunden, dass der Quanten-Hall-Effekt in Graphen auch bei Raumtemperatur funktioniert.“ In anderen Stoffen wurde er nur bei extrem niedrigen Temperaturen beobachtet. Das Phänomen besagt, dass in einem starken Magnetfeld die Spannungsdifferenz zwischen der linken und der rechten Seite eines Leiters nicht linear mit dem Magnetfeld zunimmt, sondern in Stufen. Wie hoch diese Stufen sind, ist allein von Naturkonstanten abhängig.

Hersteller von Mikroelektronik erhoffen sich davon, die Widerstände ihrer winzigen Bauteile mithilfe von Graphen künftig präziser messen zu können, nennt Seyller eine mögliche Anwendung. Er und sein Team arbeiten an Graphen-Transistoren, die einmal die bekannten Bauteile auf Siliziumbasis ersetzen könnten. Ein Transistor ist nichts anderes als ein Schalter, der ohne Mechanik auskommt und nur mit Strom gesteuert wird. Je schneller der Schalter ist, umso besser. Graphen könnte ein wahrer Turboschalter werden, ist Seyller überzeugt. „Das Material kann sehr schnell zwischen verschiedenen Zuständen wechseln und damit Ströme modulieren.“ Für Handys oder Radargeräte seien solche Hochfrequenztransistoren sehr gefragt. Weltweit arbeiten Forschergruppen an dieser Technik. „In den USA ist dazu kürzlich ein Projekt mit mehreren Millionen Dollar gestartet worden“, berichtet der Physiker.

Graphen ist auch unglaublich stabil. Die Bindungen zwischen den Kohlenstoffatomen sind so stark, dass das Material fester ist als Stahl und dennoch flexibel. Es könnte daher in der Elektronik eingesetzt werden. Besonders interessant ist es für berührungsempfindliche Bildschirme, denn Graphen schluckt nur zwei Prozent des sichtbaren Lichts. Außerdem verfügt der Stoff über eine Wärmeleitfähigkeit, die weit größer ist als die von Silber.

Es gibt tausende Ideen, welche tatsächlich in der Praxis ankommt, ist unklar. So sieht es auch der Preisträger Geim: „Wofür man Graphen wirklich anwenden kann, wissen wir noch nicht. Aber ich hoffe, dass es genauso unser Leben verändern kann wie Plastik.“

Für ihn ist es übrigens nicht der erste Nobelpreis. Vor zehn Jahren hatte er zusammen mit dem Briten Michael Berry den „Ig-Nobelpreis“ erhalten, ein satirischer Preis, mit dem skurrile Forschungen geehrt werden. Der Name ist ein Wortspiel mit dem englischen Ausdruck „ignoble“ (schändlich, lächerlich). Sie hatten damals einen lebenden Frosch in einem starken Magnetfeld schwerelos erscheinen lassen.

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