zum Hauptinhalt
Dicke Knochen, besseres Gedächtnis. Wer sein Gehirn für Spielchen wie „Memory“ jung halten will, sollte joggen gehen.

© Imago

Nobelpreisträger Eric Kandel in Interview: Das Skelett der Erinnerung

Wenn im Alter das Gehirn streikt, liegt eine der Ursachen im Knochenschwund, meint Nobelpreisträger Eric Kandel im Tagesspiegel-Interview.

Herr Kandel, Sie haben im Jahr 2000 den Medizin-Nobelpreis bekommen. Es heißt, Ihre Frau hätte Sie gewarnt, dass Forscher nach der Auszeichnung nichts mehr zustande bringen. Hat sie recht behalten?

Wir waren gerade beim Wäscheaufhängen in unserem Ferienhaus auf Cape Cod bei Boston, als jemand von den National Institutes of Health anrief und mich informierte, dass ein Antrag auf Forschungsgelder bewilligt wurde. Und der Anrufer ergänzte, dass man überzeugt sei, dass ich wohl bald den Nobelpreis bekommen würde. Als ich das meiner Frau Denise erzählte, meinte sie nur, dass das hoffentlich nicht bald passieren würde, weil Nobelpreisträger nämlich meist nur noch wenig Neues herausfinden würden. Das war für mich natürlich ein besonderer Ansporn. Und ich denke, wir haben seitdem in meinem Labor an der Columbia-Universität einiges Interessantes herausgefunden.

Zum Beispiel?

Wir arbeiten mit Modellorganismen wie der Maus und haben entdeckt, wie sich die beiden Formen von Gedächtnisverlust, der altersbedingte und der durch die Alzheimer-Krankheit ausgelöste, klar unterscheiden: Sie starten in unterschiedlichen Gehirnregionen, sie haben unterschiedliche Anfänge und vor allem sind unterschiedliche Moleküle involviert. Dabei haben wir kürzlich die faszinierende Entdeckung gemacht, dass beim altersbedingten Gedächtnisverlust ein Hormon namens Osteocalcin eine Rolle spielt, das von knochenbildenden Zellen abgegeben wird. Die Hypothese ist: Einer der Gründe für altersbedingten Gedächtnisverlust ist das aufgrund der schwindenden Knochenmasse reduzierte Osteocalcin. Aber es sieht immerhin so aus, dass Sport dem Gedächtnisverlust entgegenwirken könnte. Ältere Mäuse produzieren weniger Osteocalcin, aber hält man sie zur Bewegung an, steigt die Konzentration und Gedächtnisleistung wieder.

Funktioniert das nur bei Mäusen?

Das Prinzip gilt wohl auch beim Menschen. Wir haben Hirngewebe von Toten bekommen, die nicht an Alzheimer gestorben sind. Dann haben wir die Hirnregion, wo der altersbedingte Gedächtnisverlust beginnt, den Gyrus Dentatus, mit der Region verglichen, wo Alzheimer beginnt, im entorhinalen Cortex. Dabei fanden wir 17 Proteine, deren Konzentration entweder auffällig erhöht oder vermindert ist. Eines davon ist RbAp48. Mit zunehmendem Alter geht die Menge dieses Proteins im Gyrus Dentatus zurück, und zwar nur dort und nirgendwo sonst.

Daraufhin haben wir Experimente bei Mäusen gemacht: Wir blockierten bei einer jungen Maus die Herstellung von RbAp48 und lösten dadurch einen Gedächtnisverlust aus, wie er sonst nur im Alter zu finden ist. Und umgekehrt, wenn wir bei einer alten Maus die RbAp48-Funktion künstlich wiederherstellten, konnten wir auch die altersbedingten Gedächtnisprobleme aufheben. Und schließlich überprüften wir, ob sich über die Erhöhung der Osteocalcin-Konzentration in alten Mäusen ein ähnlicher Effekt erzielen lässt. Und tatsächlich: Mehr Osteocalcin erhöht die Menge von RbAp48 und sorgt für eine bessere Gedächtnisleistung.

Der Hirnforscher Eric Kandel untersuchte Nervenzellen der Meeresschnecke Aplysia und entdeckte Grundlagen der Gedächtnisbildung. 2000 bekam er für diese Arbeiten den Nobelpreis.
Eric Kandel, 84, emigrierte mit neun Jahren mit seinen Eltern aus Wien. An Nervenzellen der Meeresschnecke Aplysia erforschte er die Grundlagen der Gedächtnisbildung und bekam 2000 für diese Arbeiten den Nobelpreis.

© Sascha Karberg

Wie hängt dieses RbAp48-Protein mit der Gedächtnisbildung zusammen?

Es ist Teil eines Molekülkomplexes namens CREB, der in Nervenzellen bestimmte Gene einschalten kann. In der Folge verändert sich die Nervenzelle so, dass Verbindungen zu anderen Nervenzellen, die Synapsen, verstärkt werden – was nichts anderes bedeutet, als dass Gedächtnis gebildet wird.

Für die Entdeckung von CREB und die Aufklärung der Gedächtnisbildung haben Sie den Nobelpreis bekommen. Jetzt kommen diese Ergebnisse also in der Praxis an?

Ja, eine ganze Reihe von Arzneimittelfirmen ist daran interessiert und möchte Medikamente entwickeln, die in diesen Signalweg eingreifen. Aber auch wenn die Ergebnisse vielversprechend sind, wir befinden uns noch ganz am Anfang.

Sowohl in den USA als auch in Europa gibt es inzwischen Prjekte, die das Gehirn als Ganzes erforschen. Sie arbeiten noch immer mit der Meeresschnecke Aplysia. Ist das nicht überholt?

Ganz im Gegenteil, ich lerne noch immer sehr viel von Aplysia, denn viele grundlegende Lernvorgänge laufen dort genauso ab wie in Wirbeltieren. Das Europäische „Human Brain Project“ ist fehlgeleitet. Die Idee, das Gehirn auf dem Computer simulieren zu wollen, ist ... unglücklich, um es freundlich zu formulieren. Wir wissen einfach nicht genug über das Gehirn, um ein Computermodell davon zu entwickeln. Das Pendant dazu in den USA, die „Brain Initiative“, ist sehr ambitioniert und verbraucht eine große Menge Geld, aber ich denke, dass es produktiv sein wird. Vor allem wird es Methoden entwickeln, mit denen nicht mehr nur einzelne sondern viele Zellen untersucht werden können. Dennoch ist der Weg zu einem besseren Verständnis des Gehirns noch sehr weit. Jahrzehnte Forschungsarbeit werden nötig sein, mit einer großen Kraftanstrengung allein ist das nicht zu schaffen.

Auf dem Weg dahin werden Mittel und Wege gefunden, Gedächtnis zu verändern. Schon jetzt können die Folgen traumatischer Erlebnisse mit Medikamenten behandelt und Erinnerungen gelöscht werden. Was halten Sie davon?

Beim Posttraumatischen Belastungssyndrom (PTSD) würde ich nicht die Erinnerung zu löschen versuchen, sondern die damit verbundenen schmerzvollen Auswirkungen und Gefühle. Das sollte prinzipiell möglich sein. Ich erinnere mich an meine Kinderzeit in Wien und hatte bis zu einem gewissen Grad selbst PTSD.

Ihre Familie ist vor den Nazis aus Wien nach New York geflohen, als Sie neun Jahre alt waren.

Ich empfinde keinen Schmerz mehr, wenn ich daran denke, weil ich ein wundervolles Leben in den USA hatte. Ich habe schmerzvolle Erinnerungen, aber sie beeinträchtigen mich nicht. Man sollte den Effekt einer Erinnerung von ihrem kognitiven Aspekt trennen. Denn ich denke, dass ein Mensch seine Identität verliert, wenn er die kognitiven Aspekte seiner Erinnerungen verliert.

Sollten Neurobiologen sich darüber Gedanken machen, wie sie Erinnerungen unter Schutz stellen können?

Unbedingt. Die Idee mag ein wenig früh kommen, weil wir noch wenig Möglichkeiten haben, Gedächtnis zu kontrollieren. Aber für eine sinnvolle Diskussion ist es nie zu früh.

Haben Erinnerungen, vielleicht gerade schlechte und schmerzvolle, eine Rolle in der Gesellschaft, zum Beispiel um Kriege zu vermeiden?

Tragischerweise offenbar nicht. Wir leben in einer der schrecklichsten Zeiten was Kriege betrifft, und es gibt eine enorme Epidemie von traumatisierten Menschen – und es scheint keinerlei Einfluss auf die Politik zu haben.

Das Harnack-Haus war einst das Hauptquartier der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, deren Forscher mit den Nationalsozialisten viele Kompromisse gemacht haben. Was hat Sie bewogen, die Rede zur Wiedereröffnung des Hauses zu halten?

Die Max-Planck-Gesellschaft, der Nachfolger der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, ist nicht nur aus wissenschaftlicher Sicht eine herausragende Organisation, sondern auch aus Sicht moralischer Integrität. Sie hat es absolut transparent gemacht, dass die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft in der Hitlerzeit nicht makellos war, und hat beispielsweise die Experimente Josef Mengeles an Zwillingen untersucht und offengelegt.

Es hat lange gedauert, bis es dazu kam ...

... und man hat sich dafür entschuldigt. Als Österreicher, wo alles noch länger dauert, kann ich mit der deutschen Langsamkeit gut leben.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false