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Abtransport: Psychisch Kranke und Behinderte besteigen einen Bus, hier in Bayern. Sie wurden während der NS-Zeit in eigens errichtete Anstalten gebracht, wo viele sterilisiert und ermordet wurden.

© picture-alliance/epd

NS-Verbrechen: Hitlers Operateure

Frühe Gefolgschaft, grausame Versuche: Chirurgen waren tief in die NS-Verbrechen verstrickt. Ohne ihre Beteiligung wäre Hitlers Euthanasie-Programm nicht durchführbar gewesen.

1933 waren sie schnell dabei, die deutschen Chirurgen. Auf einen Wink von oben ließ Wilhelm Konrad Röpke, im Jahr der „Machtergreifung“ Vorsitzender der „Deutschen Gesellschaft für Chirurgie“, alle jüdischen Mitglieder auffordern, ihre Vorträge für den Jahreskongress im April zurückzuziehen. Vorsichtshalber wiederholte er den Rausschmiss in seiner Eröffnungsrede: „Ich bitte alle Herren Redner, (...) deren Auftreten hier angesichts der heutigen nationalen Strömung Unruhe oder Missstimmung hervorrufen könnte, zurückzutreten; denn der ruhige Verlauf unserer Tagung und die Würde der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie geht allem anderen voran.“

Dass gerade mit solchen Worten der Verlust ihrer Würde begann, erkannten die deutschen Chirurgen viel später als andere medizinische Disziplinen. Erst mehr als sechs Jahrzehnte nach Kriegsende beauftragte die Chirurgengesellschaft ein medizinhistorisches Forscherteam, die Verstrickungen der Chirurgen in die NS-Ideologie und -Medizin aufzuhellen.

Die ersten Ergebnisse wurden jetzt in einem 300-seitigen Band veröffentlicht. „Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie setzt ein Zeichen gegen das Vergessen und Verschweigen. Sie stellt sich ihrer historischen Verpflichtung. Auch nach 66 Jahren gibt es hierfür keine Unzeit“, sagt Hans-Ulrich Steinau, der als Präsident 2006/7 die Initiative ergriffen hatte. Angesichts von Zwangssterilisationen – eine Aufgabe für Operateure – und unfassbar grausamen Versuchen an Gefangenen und Verschleppten müsse man nach der Entstehung von „gewissenlosem Forscherdrang, Karrieresucht und verblendetem Rassismus“ fragen.

Auftragsgemäß widmeten sich die Medizinhistoriker zuerst den Führungspersönlichkeiten, den jeweils für ein Jahr gewählten Präsidenten der Fachgesellschaft in der NS-Zeit. Es waren ausgezeichnete Operateure, medizinische Wissenschaftler und Hochschullehrer – die besten Repräsentanten ihrer Disziplin. Die Forscher trugen ohne Schwarz-Weiß-Malerei Fakten zu ihrem Leben zusammen, zu ihren politischen Aktivitäten, aber auch zum psychosozialen und politischen Umfeld.

Dort suchen die Medizinhistoriker einen Grund für die besondere NS-Affinität der Chirurgen wie auch für das lange Schweigen der Zunft. Schon vor 1933 wurden die Ärzte in streng hierarchisch gegliederten Krankenhäusern sozialisiert. Soldatische Zucht durch den Sanitätsdienst im 1. Weltkrieg prägte sie: Die meisten waren deutsch-national orientiert und gegen die Weimarer Demokratie eingestellt. Chirurgische Kliniken wurden auch ohne Hitler straff nach dem „Führungsprinzip“ geleitet.

Das liest man in der Einleitung des jetzt veröffentlichten Buches. Zu hoffen ist, dass der Band auch Nachwuchs-Mediziner erreicht, unter denen die Herausgeber „deutliche Informationsdefizite“ und „Desinteresse an der Vergangenheit ihres künftigen Standes“ beobachten. Hier könnten sie viel über die einstige Elite ihrer Zunft erfahren.

Auf der Seite 2 lesen Sie wer die Chirurgen waren, die sich an dem Euthanasie-Programm beteiligten.

Etwa über den Unfallchirurgen Georg Magnus. Auf Wunsch Hitlers wurde Magnus 1933 aus Bochum nach Berlin geholt. Er sollte die geschlossene Chirurgische Uniklinik in der Ziegelstraße wiederbeleben, um sie zu einer Kaderschmiede für parteitreue Ärzte und zu einem Zentrum der NS-Medizin zu machen.

Dass er der richtige Mann dafür war, darauf deutet seine Ansprache zur Eröffnung des Chirurgenkongresses 1935 hin. Wie die Reden der anderen Vorsitzenden ist sie in dem Buch erstmals wörtlich (und nicht, wie zuvor, „entnazifiziert“) nachzulesen. Entscheidende Sätze gehen über die obligaten Ergebenheitsbeteuerungen hinaus. „Wir werden mehr als bisher die Gesamtheit des Volkskörpers als Objekt unseres ärztlichen Handelns ansehen gegenüber der Sorge für das Einzelindividuum.“ Es folgt ein Hinweis auf die Verhütung erbkranken Nachwuchses, also auf die Zwangssterilisationen als Aufgabe des Operateurs. Über 360 000 Menschen sollen sterilisiert worden sein, darunter viele psychisch Kranke und Behinderte, aber auch Sinti und Roma.

Drei von Magnus’ Schülern wurden Hitlers „Begleitärzte“. Einer von ihnen war Karl Brandt. Als junger Arzt wollte er mit Albert Schweitzer in Lambarene arbeiten. Das scheiterte nur daran, dass er nicht die Bedingung erfüllen wollte, Staatsbürger des verhassten Erbfeinds Frankreich zu werden. Stattdessen wurde er dann „Euthanasiebeauftragter“ und Leiter der Krankenmassenmord-„Aktion T 4“, bei der schätzungsweise 250 000 bis 300 000 Psychiatrie-Patienten und behinderte Menschen umgebracht wurden.

Später war Brandt als „Reichskommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen“ mitverantwortlich für kriminelle Menschenversuche. Trotz allem unterschrieben 23 Hochschullehrer ein Gnadengesuch für den Hauptangeklagten des Nürnberger Ärzteprozesses. Karl Brandt wurde 1947 zum Tode verurteilt und 1948 hingerichtet. Ein weißer Rabe unter all den NS-Anhängern und Überangepassten war der linksliberale Berliner Otto Nordmann. 1933 gab er seine sichere Stellung als pensionsberechtigter Chirurgie-Chef im städtischen Auguste-Viktoria-Krankenhaus auf, offenbar, weil ihm NS-begeisterte Assistenzärzte das Leben zur Hölle machten, und ging ins konfessionelle Martin-Luther-Krankenhaus.

„Wie die Regierung sich mit der Wahl Nordmanns (zum Chirurgen-Präsidenten 1939) abfinden konnte, ist ein Rätsel“, schrieb später der jüdische Chirurg Rudolf Nissen, der ihm eine Art innerer Emigration bescheinigte. Nissen selbst emigrierte in die Türkei und weiter in die USA, kehrte aber nach Deutschland zurück. Er gehört zu 217 ermittelten, vertriebenen und vermissten Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Ein zweiter Band mit ihren Biografien soll folgen.

Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie bittet dafür um Hinweise: dgchirurgie@t-online.de. Der erste Band im Handel: Michael Sachs, Heinz-Peter Schmiedebach, Rebecca Schwoch: Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945. Die Präsidenten. Heidelberg 2011, 59,50 Euro.

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