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Gedruckte Enzyklopädien gelten in der Wissenschaft nicht als zitierfähig. Doch Wikipedia ist auf dem Vormarsch.

© Thilo Rückeis

Online-Enzyklopädien: Akademische Weihen für Wikipedia

Eine aktuelle Studie zeigt: Weltweit zitieren viele Forscher aus Onlinelexika, besonders aus Wikipedia. Am intensivsten nutzen amerikanische Wissenschaftler das Medium, deutsche sind zurückhaltender.

In der Abschlussarbeit aus Wikipedia zitieren? Undenkbar für viele Hochschullehrer, verboten für die meisten Studierenden. Doch nach dem Bachelor oder Master fallen die Hemmungen. Immer mehr Wissenschaftler vertrauen auf die Korrektheit der Informationen in Onlineenzyklopädien. Und immer häufiger wird das Phänomen Wikipedia selbst zum Forschungsgegenstand.

Allein im vergangenen Jahr tauchte Wikipedia als Quellenangabe in 4006 wissenschaftlichen Publikationen weltweit auf. Die allermeisten davon in Journalen, in denen die eingereichten Arbeiten vor der Veröffentlichung einem sogenannten Peer-Review unterzogen werden, der rigorosen Überprüfung durch andere Experten. Seit 2007 stieg die Zahl der Artikel mit Verweisen auf die Onlineenzyklopädie um durchschnittlich 31 Prozent pro Jahr. Knapp die Hälfte aller entdeckten Wikipedia-Einträge in den Literaturlisten stammten von Sozial-, Computer-, Ingenieurwissenschaftlern und Medizinern.

Das geht aus einer aktuellen Untersuchung des Onlinemagazins „Research Trends“ des Elsevier-Verlages hervor. Die Bibliografen nahmen sich dazu die verlagseigene Datenbank Scopus vor, eine der größten Sammlungen für Kurzinformationen aus rund 46 Millionen wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Sie erschienen in über 18 500 akademischen Zeitschriften von rund 5000 Verlagen.

Besonderes Vertrauen genießt Wikipedia bei US-Wissenschaftlern. Seit 2002 tauchte das Nachschlagewerk in knapp 4000 ihrer Veröffentlichungen als Quelle auf. Kein Wunder: Mit rund drei Millionen Artikeln ist die englischsprachige Version sowieso die umfangreichste der rund 260 Sprachausgaben. In Europa sind es vor allem britische Forscher, die sich in rund 1000 Veröffentlichungen auf Wikipedia beziehen, nur wenig häufiger als ihre chinesischen und indischen Kollegen. Von deutschen Akademikern fanden sich Zitate in rund 700 Publikationen. Im Vergleich zu schätzungsweise 1,5 Millionen wissenschaftlichen Aufsätzen, die jährlich weltweit erscheinen, sind die Fallzahlen sehr gering, doch die Tendenz ist durchweg steigend.

Wikipedia ist das populärste Onlinenachschlagewerk mit mehr als 25 Millionen täglichen Zugriffen allein auf die deutsche Version. Unter den verwandten, aber noch sehr viel kleineren Projekten ist die 2005 gegründete Scholarpedia, eine Plattform für naturwissenschaftlich-technische Gebiete wie Astrophysik und Computational Neuroscience. Bevor die Artikel dort freigeschaltet werden, durchlaufen sie das Peer-Review-Verfahren der akademischen Journale. Quellenangaben, die auf diese Enzyklopädie verweisen, sind deshalb bei Forschern besonders stark im Kommen. Seit 2007 registrierte die Studie aus „Research Trends“ eine Steigerung von 37 Prozent pro Jahr. Doch mit knapp über 200 entdeckten Verweisen kommt Scholarpedia gerade einmal auf fünf Prozent der Wikipedia-Zitate. Offenbar brauche es Zeit, bis neue Onlinequellen akzeptiert werden, heißt es in der Studie. Oder aber die Wissenschaftler gäben sich mit Wikipedia als Quelle zufrieden.

Hinter dem Erfolg von Wikipedia verbergen sich auch Quellenangaben, die auf Wikipedia als Forschungsobjekt verweisen. Mehr als die Hälfte der Forscher, die sich mit dem Phänomen der Massenweisheit beschäftigen, sind Computer- und Sozialwissenschaftler. Auch hier sind es wieder US-Forscher, die mit fast 180 Publikationen über Wikipedia mit Abstand am aktivsten waren. Deutsche Forscher belegten mit 45 Veröffentlichungen den zweiten Platz, gefolgt von den britischen Kollegen mit knapp 40.

Verweise auf Onlinequellen haben indes oft nur eine kurze Halbwertzeit. Sie führten spätere Leser schon oft auf Error-404-Seiten, nicht mehr gültige Adressen. Wissenschaftliche Quellen müssen aber nachvollziehbar und überprüfbar sein. Grundsätzlich gewährleisten Onlineenzyklopädien das im Gegensatz zu normalen Internetportalen – vorausgesetzt, man referenziert richtig. Sie speichern nämlich jeden Änderungszustand im Archiv, der so für alle Zeiten über einen sogenannten „permanenten Link“ erreichbar bleibt.

In Zeiten kiloschwerer Enzyklopädiebände war es unüblich, aus Nachschlagewerken zu zitieren. Doch die Aktualität der Onlineenzyklopädien, ihre Orientierungs- und Vertiefungshilfen sind offenbar unschlagbar. Hochschullehrer wären gut beraten, ihren Studenten die Grundlagen wissenschaftlichen Zitierens und den Nutzen von Wikipedia als Einstiegshilfe stärker nahezubringen. Denn nach der Abschlussarbeit werden sie ohnehin darauf zurückgreifen. Hanns-J. Neubert

Hanns-J. Neubert

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