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Ein Porträt Walter Benjamins.

© picture alliance/Effigie/Leema

Online-Portal zu historischen Flüchtlingsschicksalen: Die Geschichte der Flucht

Flucht hat immer einen Kontext und eine Geschichte. Auf der Webseite gefluechtet.de sammeln zwei junge Wissenschaftler nun Biografien und Hintergründe zur Migration - von Büchner über Walter Benjamin bis Thomas Mann.

Urplötzlich stehen sie da, zu Hunderten oder zu Tausenden. In Calais, am Eingang des Eurotunnels. In der Grenzstadt Passau, wo die Fluchtroute aus Osteuropa nach Deutschland mündet. In der Turmstraße, vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales. Lauter Namenlose, die nur „Flüchtling“ heißen. Doch in Wahrheit tauchen sie gar nicht so plötzlich auf. Flucht hat immer einen Kontext und eine Geschichte – und sie ist kein neues Phänomen. Schon das Alte Testament erzählt von Menschen, die fliehen, etwa in der Josefsgeschichte: „Als nun im ganzen Lande Hungersnot war, tat Josef alle Kornhäuser auf. Und alle Welt kam nach Ägypten, um bei Josef zu kaufen; denn der Hunger war groß in allen Landen“ (Gen. 41, 56–57).

Stereotypen und mangelndes Faktenwissen

Um die geschichtliche Dimension der Flucht hervorzuheben, haben jetzt zwei Historiker gemeinsam eine Internetseite gegründet: gefluechtet.de. „Migrationsbewegung gibt es, seit wir Geschichte schreiben“, sagen Birte Förster, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Darmstadt, und Moritz Hoffmann von der Universität Heidelberg. Die Idee zur Internetseite sei ihnen gekommen, weil die gegenwärtige Debatte über die zunehmende Zahl an Flüchtlingen von Stereotypen und mangelndem Faktenwissen geprägt sei. „Wir wollten uns nicht nur auf Twitter über rassistische Übergriffe aufregen, sondern unsere geisteswissenschaftliche Kompetenz einbringen.“

Um Ursachen, Lebenssituationen und Umgang mit Flucht geht es in den Rubriken der Seite. Beispiele kollektiver und individueller Fluchtgeschichten gibt es schließlich zuhauf – etwa der jüdischen Bevölkerung, die 1492 geschlossen aus Spanien ausgewiesen wurde. Oder des politischen Dissidenten Georg Büchner, der 1835 aus dem Großherzogtum Hessen nach Straßburg floh.

Adorno, Brecht, Seghers, Mann - alle waren Flüchtlinge

Im 20. Jahrhundert drängt die nationalsozialistische Verfolgung die Menschen als Staatenlose in die Flucht. Hunderttausende irren über Länder und Grenzen hinweg, auf ein sicheres Leben hoffend. Nicht alle von ihnen sind im Rückblick namenlos: Auch Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Anna Seghers, Thomas Mann waren Flüchtlinge. „Wir wollen die Perspektive umdrehen“, sagt Förster über die Kurzbiografien der bekannten Persönlichkeiten, die auf der Internetseite gesammelt werden: „Heute fliehen die Menschen nach Deutschland, aber wer musste eigentlich damals Deutschland verlassen?“

Nicht alle haben das Exil in eine neue Heimat verwandeln können. Hannah Arendt etwa wurde 1937 ausgebürgert, floh über Paris nach New York, erhielt 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zeit ihres Lebens litt sie darunter, dass sie mehr Glück hatte als ihr Freund Walter Benjamin. Jahrelang hatte er unter erbärmlichen Lebensbedingungen und mit finanzieller Unterstützung seiner Freunde in Paris ausgeharrt, Besitz und Bücher an früheren Wohnorten verstreut. 1940 versuchte er, aus Frankreich auszureisen. Doch just in dem Augenblick, als er in Port Bou die französisch-spanische Grenze übertreten wollte, wurde sie geschlossen. Noch in derselben Nacht nahm er sich das Leben. „Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde“, kommentierte Arendt. Sie ließ keinen Zweifel daran, dass Benjamins Selbstmord eine Folge des totalitären Bürokratismus war.

Zum Mitmachen einladen

Um eine einfache Gleichsetzung der Fluchtgeschichten von damals und heute könne es freilich nicht gehen, meint Förster. Sichtbar machen könne man aber die historischen Zusammenhänge und Verwicklungen. Beispiel England: Premierminister David Cameron fahre eine harsche Abschreckungspolitik gegen Flüchtlinge, blende dabei aber vollständig aus, dass Großbritannien eine Kolonialmacht war, deren territoriale, finanzielle und kulturelle Ausbeutung bis heute Auswirkungen auf die Gesellschaftsordnung Nord- und Zentralafrikas habe. „Die Menschen, die aus Nigeria oder Kamerun zu uns kommen, sind keine Fremden. Ihre Armut und Chancenlosigkeit hat etwas mit Europas Reichtum zu tun.“

Förster und Hoffmann finden, dass daraus eine besondere Verantwortung erwächst. Für den Staat, aber auch die Zivilgesellschaft. Deswegen gibt es auf gefluechtet.de neben den Biografien von Geflohenen, Hintergrundinformationen über die Gründe von Flucht – Hunger, Gewalt, politische Verfolgung in Diktaturen – auch die Rubrik „Was tun?“ mit Links zu Hilfsprojekten.

Auf keinen Fall wollen Förster und Hoffmann ihr Kontextualisierungsprojekt als abgeschottete Wissenschaft verstanden wissen. „Zum Mitmachen eingeladen sind auch Studierende und all jene, die eine differenzierte Debatte wollen“, sagen sie, und hoffen, dass die Datenbank mit Kurzbiografien über Geflohene schnell wächst.

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