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Angefixt. Viele Firmen gestalten die Computergames absichtlich so, dass die Spieler immer häufiger und immer länger spielen wollen.

© Oliver Berg/picture-alliance/dpa

Online-Sucht bei Kindern und Teenagern: Hilfe für die digital verwahrloste Jugend

Spielen, spielen, spielen und chatten, chatten, chatten: Manche Jugendliche sind süchtig nach dem Internet. Selbst PC-Kabel rausreißen hilft da nicht mehr. Der Arzt Bert te Wildt will Eltern und Pädagogen helfen, digitale Junkies von ihrer Abhängigkeit zu befreien.

In China wird nicht lange gefackelt. Da kann es einem internetsüchtigen Jugendlichen passieren, dass er von seinem verzweifelten Vater unter einem Vorwand vom PC weggelockt wird und sich in einem Drill Camp für Computerjunkies wiederfindet. Und dann heißt es: Einheitskleidung anziehen, alle elektronischen Geräte abgeben, sich mit anderen bleichen Kids in einer Reihe aufstellen und – Sport treiben! Früh aufstehen! Mutproben! Gemeinschaft! Nach drei Monaten, so ist es in einer TV-Reportage eines deutschen Senders zu sehen, werden die Jugendlichen als „geheilt“ entlassen. Im Film bedanken sie sich sogar dafür. China eben.

PC-Zeiten verhandeln, Kabel rausreißen

So manches deutsche Elternteil, das diese Reportage auf YouTube sieht, mag heimlich Neid empfinden. Denn gerade jetzt in den Ferien dürften in tausenden abgedunkelten Jugendzimmern junge Menschen vor ihren PCs sitzen und spielen, spielen, spielen oder chatten, chatten, chatten. Freibad? Freunde treffen? Sport treiben, Musik machen? Alles langweilig. Schon der gelegentliche Gang zum Kühlschrank ist lästig. Und die Eltern, die hundertfach Angebote gemacht, über PC-Zeiten verhandelt und Kabel rausgerissen haben, träumen womöglich von einem chinesischen Drill Camp für den halbwüchsigen Sohn, dessen Muskeln dringend Training bräuchten statt Abschlaffen vor dem Bildschirm.

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Internetabhängigkeit als ernst zu nehmende Suchterkrankung wird in Deutschland erst langsam zum Thema – in der vergangenen Woche etwa durch den Aufruf der Kinderärzte an die Politik, eine bundesweite Studie zur Onlinesucht finanziell zu unterstützen. Die Zunft der Psychologen hinkt der Entwicklung hinterher, es gibt viel zu wenige ambulante und stationäre Angebote für onlinesüchtige Kinder und Jugendliche.

Ein Buch über digitale Junkies

Einer, der es beurteilen kann, hat darüber jetzt ein äußerst lesenswertes und lebenskluges Buch geschrieben, dem man eine weite Verbreitung unter Eltern, Psychologen, Pädagogen wünscht: „Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder“. Bert te Wildt leitet als Oberarzt die Ambulanz der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums der Ruhr-Universität Bochum und hat dort eine Medienambulanz aufgebaut. Bereits 2002 gründete er an der Medizinischen Hochschule Hannover eine Sprechstunde für Internetsüchtige.

Seiner Meinung nach sorgt sich unsere Gesellschaft viel zu wenig über die Folgen der digitalen Entwicklung für die Zukunft unserer Kinder. „Wir haben einen blinden Fleck für die Abhängigkeitsgefahren, die vom Internet ausgehen.“

Bert te Wildt geht es nicht um Fundamentalkritik

Dabei geht es ihm keineswegs um eine Fundamentalkritik am Internet. Te Wildt ist selbst mit Computerspielen aufgewachsen und weiß die Annehmlichkeiten der Digitalisierung zu schätzen. Aber jeder, schreibt er, sollte die eigene Mediennutzung kritisch überprüfen und bewusst gestalten, statt sich von blinkenden Geräten fremdbestimmen zu lassen. Die meisten von uns kommen mit den erhöhten Anforderungen, die die Digitalisierung an unsere Konzentrationsfähigkeit, unsere Entscheidungssicherheit stellt, zwar irgendwie klar. Aber einige scheitern und werden süchtig. Bert te Wildt vergleicht die Internetsucht in dieser Hinsicht mit anderen Süchten: „So wie unsere trinkfeste Gesellschaft gerne die Kollateralschäden des Alkoholismus ausblendet, verliert die Netzgesellschaft diejenigen aus dem Blick, die im Internet ihr zumeist noch junges Leben digital vor die Wand fahren.“

So lässt sich Internet-Sucht erkennen

Nach vorsichtigen Schätzungen sind in deutschsprachigen Ländern über fünf Millionen Menschen von einer problematischen oder pathologischen Internetnutzung betroffen. Ob ein Jugendlicher einfach nur gerne spielt oder süchtig ist, lässt sich an folgenden Symptomen erkennen: Ein Süchtiger ist gedanklich stets mit seiner Sucht beschäftigt und in Sorge, er könne nicht genug Alkohol bekommen oder vom Internet getrennt werden. Wenn er mal nicht am PC sitzen oder ins Handy starren kann, denkt er darüber nach, was er zuletzt im Internet gemacht hat oder demnächst dort tun wird. Wie beim Alkohol braucht ein Süchtiger eine immer höhere Dosis seines Suchtmittels, bis der Tag-Nacht-Rhythmus durcheinandergerät. Typischerweise sinken die Leistungen in der Schule, da sich die Süchtigen auf nichts anderes mehr konzentrieren können, Ausbildungen werden abgebrochen, denn die Betroffenen können das notwendige Minimum an Disziplin und Interesse nicht aufbringen. Wie Alkoholiker weisen sie jedoch den Hinweis, sie könnten süchtig sein, empört zurück und belügen sich und ihre Umwelt über die Dauer ihrer Nutzung.

Wer durch Internet-Sucht gefährdet ist

Das Leben im Internet erscheint ihnen vertrauter, beherrschbarer als das reale Leben, in dem sie mit Anforderungen von Menschen konfrontiert sind, die sie nicht einfach so wegklicken können. Im Extremfall verlassen die Betroffenen – Bert te Wildt schildert zahlreiche derartige Fälle – das Haus überhaupt nicht mehr freiwillig. Auch wenn es hierzulande, anders als in China und Südkorea, noch keine Todesfälle gegeben hat: Auf dem Eltern-Selbsthilfeportal www.rollenspielsucht.de schildern Mütter und Väter sehr plastisch ihre Verzweiflung über Kinder, die, womöglich bereits erwachsen und allein lebend, in eine totale Verwahrlosung abgleiten.

Drei Varianten der Internetabhängigkeit

Drei typische Varianten der Internetabhängigkeit kristallisieren sich heraus: Online-Rollenspiele – vor allem bei jungen Männern; soziale Netzwerke – vor allem bei jungen Frauen; und Cybersex – vor allem bei Männern mittleren Alters. Bert te Wildt analysiert Spiele mit hohem Suchtpotenzial wie „World of Warcraft“, „Counterstrike“ und „Call of Duty“ und deren raffinierte Belohnungssysteme, mit denen sie die Spieler anfixen und dazu bringen, immer mehr Zeit in der virtuellen Welt zu verbringen, bis die reale Welt völlig in den Hintergrund tritt. Wie bei Alkohol und Tabak stehen dahinter massive wirtschaftliche Interessen. Die Games-Industrie feiert Computerspiele, etwa bei der am 6. August anstehenden „Gamescom“ in Köln, als „Wirtschaftsfaktor, Innovationstreiber, Lernwerkzeug und Kulturgut“; zu erwähnen, dass bestimmte Spiele ein besonders hohes Suchtpotenzial haben, würde das rosige Bild stören. Bert te Wildt fordert unter anderem ein Gütesiegel für unbedenkliche Internetanwendungen und Computerspiele. Und: „Bei der Altersfreigabe von Computerspielen sollte deren Suchtpotenzial mit einfließen.“

Anfällig sind labile Jugendliche

Wer ist gefährdet? Sicher nicht der 16-Jährige, der im Handballverein aktiv ist, Freunde hat, in der Schule mitkommt und hin und wieder mal eine Nacht durchspielt. Anfällig sind labile Jugendliche, bei denen bereits ADHS, Depressionen oder Angsterkrankungen diagnostiziert wurden, die Ausgrenzung erfahren haben oder aus anderen Gründen unglücklich sind, denen es schwerfällt, Freundschaften aufzubauen. Schwierige Familienverhältnisse können auch ein Grund sein, aber Bert te Wildt warnt davor, die Eltern zu stigmatisieren. Sicherlich sollten Eltern auf die Mediennutzung ihrer Kinder einwirken (lesen Sie hier Tipps, welche Strategien am besten wirken). Aber die Eltern, die in seine Ambulanz kommen, haben meist schon sehr vieles vergeblich versucht. Dass eins ihrer Kinder in die Sucht abrutscht, während sich die anderen völlig normal entwickeln, macht sie ratlos.

Individuelle Therapien sind nötig

Entsprechend individuell muss die Therapie ausfallen. Je länger die Internetabhängigkeit unbehandelt bleibt, desto schwieriger werde die Therapie, schreibt Bert te Wildt und bietet einen Überblick über Beratungsstellen, stationäre und ambulante Behandlungsmöglichkeiten. Wie bei anderen Süchten gibt es die Gefahr der Suchtverschiebung und von Rückfällen. In der Therapie geht es darum, die Computerzeiten zu begrenzen, in vielen Fällen ist eine zeitweise totale Abstinenz nötig, die zu heftigen Entzugserscheinungen führen kann. Gleichzeitig gilt es, den Jugendlichen alternative Tätigkeiten zu erschließen sowie ihr Selbstvertrauen zu stärken, damit sie sich auf die reale Welt einlassen können. Körpertherapeutische Ansätze können ebenfalls helfen, überhaupt Sport jeder Art, damit sich die Jugendlichen überhaupt wieder spüren.

Bedauerlich allerdings für ungeduldige Eltern: Drill Camps wie in China gibt es hierzulande nicht – und drei Monate reichen zur Heilung der Sucht nicht aus.

- Bert te Wildt: Digital Junkies: Internetabhängigkeit und ihre Folgen für uns und unsere Kinder. 384 Seiten, Droemer Knaur Verlag, 2015, 19,90 Euro. Bert te Wildt spricht am 30. September in der Urania.

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