zum Hauptinhalt
Spuren aus tiefer Vergangenheit. Der winzige Koboldmaki der Art Archicebus achilles (hier eine künstlerische Rekonstruktion) fraß Insekten, um seinen Energiebedarf zu decken.

© Abbildung: Xijun Ni

Paläontologie: Vetter aus der Vorzeit

In China wurde das bisher älteste Skelett eines Primaten gefunden: Vor 55 Millionen Jahren sprang dort an einem See-Ufer ein hyperaktiver kleiner Uraffe von Baum zu Baum.

Der Bauer hatte wohl das Fossil von einem Fisch oder Vogel erwartet, als er den Gesteinsbrocken auseinanderbrach. Der Steinbruch nahe dem Fluss Jangtse in der Provinz Hubei in Zentralchina ist für solche Funde bekannt, denn vor Urzeiten befand sich dort ein See. In seinen Sedimenten wurde so manches Tier begraben. Zum Vorschein kam jedoch ein kleines Säugetierskelett. Der Bauer schenkte es Xijun Ni, einem Paläontologen von der Chinesischen Akademie der Wissenschaften, der gerade in der Gegend nach Versteinerungen aus dem Eozän suchte. Das war vor zehn Jahren.

„Wir hatten großes Glück“, sagt Ni heute. Je länger er mit Kollegen aus Frankreich und den USA das winzige, fast vollständige Skelett analysierte, desto klarer wurde seine Bedeutung: Es handelt sich um die ältesten Überreste eines frühen Primaten, die bisher gefunden wurden.

Vor 55 Millionen Jahren sprang der kleine Ur–Primat in den tropischen Wäldern rund um den See im heutigen China von Baum zu Baum, schreiben die Forscher im Fachblatt „Nature“. Sein Körper war nur sieben Zentimeter lang und 20 bis 30 Gramm schwer, der Schwanz maß etwa 13 Zentimeter. „Das Tier wirkte vermutlich fast frenetisch, sehr agil. Es hat Insekten gefressen, um seinen hohen Energiebedarf zu decken“, sagt Christopher Beard vom Carnegie Museum für Naturkunde in Pittsburgh, der an der Studie beteiligt war. Das Tier konnte sehr gut greifen und springen.

Am ehesten vergleichbar sei es mit den heutigen – etwas größeren – Zwergkoboldmakis aus Asien, dessen frühester bekannter Vorfahr es ist. Die Forscher um Ni nannten die Art Archicebus achilles. Der Name setzt sich zusammen aus „arche“ (griechisch für „Beginn“) und „cebus“, was so viel heißt wie „Affe mit langem Schwanz“. Der Zusatz „achilles“ macht auf Besonderheiten in der Anatomie der Ferse des Tieres aufmerksam.

Um Archicebus achilles sicher im Stammbaum der Primaten zu verorten, brachte Ni seinen Fund unter anderem zur Europäischen Synchrotronstrahlungsanlage (ESRF) in Grenoble. Dort machte ein Team um Paul Tafforeau 3-D-Scans mit sehr hoher Auflösung, so dass kleinste anatomische Details sichtbar wurden, ohne dass die fragilen Knochen aus dem Stein gelöst werden musste. „Wir haben dem Skelett beim Aufstehen geholfen“, sagt Tafforeau. Ein anderes Team entwickelte eine Datenmatrix mit 1000 anatomischen Charakteristika von 157 Säugetierarten. Durch die statistische Analyse konnten die Forscher den Platz des Ur–Primaten in der Entwicklungsgeschichte finden.

Knochenjob. Mit Röntgenstrahlen erstellten die Forscher eine 3-D-Rekonstruktion des Skeletts, das während des Unteren Eozäns im Sediment eines Sees begraben wurde.
Knochenjob. Mit Röntgenstrahlen erstellten die Forscher eine 3-D-Rekonstruktion des Skeletts, das während des Unteren Eozäns im Sediment eines Sees begraben wurde.

© Abb.: Paul Tafforeau (ESRF)

„Wir waren extrem sorgfältig“, sagt Beard. „Uns ging es nicht um die frühestmögliche Publikation oder vorschnelle Urteile.“ Die Sätze spielen auf den Hype um „Ida“ an, ein 47 Millionen Jahre altes Primatenskelett der Art Darwinius, das in der Grube Messel gefunden wurde. Als es im Frühjahr 2009 in New York der Öffentlichkeit präsentiert wurde, war von einer „Sensation“ die Rede, vom wichtigsten Tag seit 47 Millionen Jahren, weil nun endlich eine Urururur...-Ahnin der Menschen untersucht werden könne. Später stellte sich heraus, dass „Ida“ bestenfalls eine entfernte Verwandte ist. Während die Affen – und damit auch wir – Trockennasenprimaten sind, war Ida ähnlich wie die Lemuren ein Feuchtnasenprimat. Genauer: Sie gehörte zu den längst ausgestorbenen Adapiformes.

Archicebus achilles dagegen ist ein früher Trockennasenprimat und ist somit etwas näher mit uns verwandt als „Ida“. Als das jetzt analysierte Exemplar lebte, hatten sich die Trockennasenprimaten gerade in Koboldmakis und „richtige“ Affen (Anthropoidea) aufgespalten. Sein Skelett liefert ein verhältnismäßig vollständiges Bild vom Aussehen und der Lebensweise dieser frühen Koboldmakis. „Das ist ein großer Schritt, wenn es darum geht, die frühesten Phasen der Evolution der Primaten und letztlich auch der Menschen zu beschreiben“, sagt Ni. Fred Spoor vom Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, der nicht an der Analyse beteiligt war, würde nicht so weit gehen: „Die Evolution der Hominiden begann viel, viel später“, sagt er. „Letztlich haben wir mehr mit Pavianen gemein als mit diesen sehr frühen Primaten.“ Trotzdem sei es ein schönes und sehr bedeutendes Fossil, das dabei helfen wird, „die tiefe Vergangenheit“ zu erforschen.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Für Beard steckt Archicebus schon heute voller Überraschungen. Das Tier habe erstaunlich kleine Augen gehabt und jagte somit am Tag – anders als die Koboldmakis heute. Die anatomischen Details wirkten außerdem wie ein Mosaik aus primitivem Schädel, Armen, Beinen und Zähnen, sowie Merkmalen, die man bisher für vergleichsweise „neu“ hielt. „Der Fuß war ein Schock“, sagt Beard. „Die Ferse sieht weder primitiv aus noch wie die eines Koboldmakis. Sie ähnelt der eines kleinen Affen.“ Die Evolution sei offenbar anders verlaufen, als es Paläontologen in der Vergangenheit annahmen. Die Ferse war keine neuere Anpassung der Affen an ihre Umwelt. Vielmehr ist sie ein primitives Erbstück, das vor 55 Millionen Jahren Koboldmakis und Affen noch gemein hatten.

Die Koboldmakis dürften sich an dem See-Ufer sehr wohl gefühlt haben, meint Beard. „Das Klima war tropisch, sehr heiß, die Luft voller Insekten. Ein wunderbarer Ort für die Tiere – wie im Film Planet der Affen.“ Außerdem bestätige der Fundort, dass die Höheren Primaten in Asien entstanden sind. „Es ist ein Puzzlestein mehr“, sagt Beard. Afrika sei im Eozän eine Insel gewesen, bevölkert von seltsamen Kreaturen, die es nur dort gab. Die Koboldmakis brachen nie dorthin auf. Und hätten die Affen es im Laufe der Zeit nicht geschafft, das offene Wasser zu überqueren, stünde die Wiege der Menschheit womöglich auch in Asien.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false