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An die Hand nehmen. Eine einfühlsame Begleitung ist häufig wichtiger als eine intensive Therapie.

© picture alliance / dpa

Palliativmedizin: Medizin um jeden Preis

Noch immer werden Kranke am Lebensende viel zu oft unnötigen Therapien unterzogen. Patienten und ihre Angehörigen sollten selbstbewusster auftreten.

Darf man einem 86-jährigen Patienten die Wahl lassen, ob er nach einer Lungenkrebsoperation zur Absicherung des Therapieerfolges eine Chemotherapie erhalten will? Sollte man mit ihm nicht die Ziele der Therapie besprechen, bevor man sich zu einer solchen Chemotherapie entschließt? Schließlich hat jeder Patient die Möglichkeit, sich einer medizinischen Maßnahme zu widersetzen, also die Einwilligung nicht zu erteilen. Er tut allerdings gut daran, sich vorher ausreichend sachkundig zu machen. Aus dem medizinischen Laien einen kompetenten Patienten werden zu lassen, ist das Gebot der Stunde.

Verschiedene Modelle beschreiben das Verhältnis von Arzt und Patient. Zu ihnen gehört das paternalistische Verständnis, bei der der Arzt väterlich-fürsorglich als überlegener Experte für den Patienten entscheidet. Der Patient erhält hier kaum die Möglichkeit, sich zum Ziel einer Therapie zu äußern. Ihm gegenübergestellt wird das Konsumentenmodell, bei dem der Arzt als technischer Experte fungiert und dem Patienten die Entscheidungen überträgt.

Wenn es aber um tief greifende Entscheidungen geht, um lebensverlängernde Maßnahmen etwa, oder um Diagnosen, die mit dem Lebensende zu tun haben, wird heute das partnerschaftliche Modell als Ideal angesehen. Es beruht darauf, dass der Patient vom Arzt begleitet und beraten wird und dieser ihm hilft, seine Lage zu bewerten.

Ein wichtiger Grundsatz ärztlicher Berufsausübung ist das Prinzip „Salus aegroti suprema lex“ („Das Wohl des Kranken ist höchstes Gesetz“). Wie verschafft man diesem Prinzip am besten Geltung? Immerhin befinden wir uns in einem der besten Gesundheitssysteme der Welt, in dem viele moderne Therapie- und Diagnostikverfahren zum Einsatz kommen.

Andreas S. Lübbe, Palliativmediziner
Andreas S. Lübbe, Palliativmediziner

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Vor wenigen Jahren noch hätte man den Kopf geschüttelt, wenn bei über 90-Jährigen eine Operation am offenen Herzen erfolgt oder eine Chemotherapie zur Sicherheit, wie bei unserem 86-jährigen Patienten gemacht worden wäre. Das sind nur zwei Beispiele, die furchtbar viel Geld kosten, an denen sich im Zweifel aber die Gemüter entzünden, wenn älteren oder schwer kranken Menschen bestimmte Maßnahmen vorenthalten werden. Man spricht hier zu leichtfertig von eiskalter Rationierung.

Tatsächlich wird gegen Ende des Lebens häufig eher zu viel als zu wenig therapiert. Hinter fragwürdigen Maßnahmen am Lebensende steht das Problem der nicht abgesprochenen Therapieziele mit dem Patienten. Es basiert meist auf vier verschiedenen Versäumnissen.

Das erste betrifft die Fähigkeit zur Interpretation von Studienergebnissen und zum Übertragen von Wahrscheinlichkeiten hinsichtlich des Ansprechens oder Versagens einer Therapie auf den einzelnen Patienten. Erst wenn dem Arzt klar ist, dass beispielsweise positive Studienergebnisse zur Lebensverlängerung bei Tumorpatienten durch eine Behandlung immer noch bedeuten können, dass die Wahrscheinlichkeit des Ansprechens beim einzelnen Patienten im einstelligen Prozentbereich liegt, ist die Voraussetzung gegeben, dass Daten und Fakten aus der wissenschaftlichen Medizin auch verantwortungsvoll auf den einzelnen Patienten übertragen werden können.

Das zweite Versäumnis betrifft die Prognose zur Lebenszeit und Lebensqualität eines Patienten. Bis heute lernen Medizinstudenten in ihrem sechsjährigen Studium nicht, eine Prognose zu stellen. Selbst bei sterbenden Patienten mit begrenzter Lebenszeit wird von den meisten Ärzten die Lebenszeitprognose deutlich (im Durchschnitt um das Dreifache der tatsächlichen Lebenszeit) überschätzt, was natürlich erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung dieser Zeit hat. Nur zu häufig heißt es auf die Frage von Patienten, wie viel Zeit ihnen noch bleibt, dies könne nur der liebe Gott beantworten und es werden unsinnige medizinische Maßnahmen eingeleitet. Das führt zum dritten Punkt.

Gerade wenn es um die Prognose einer chronischen und tödlichen Krankheit geht, zeigt sich häufig, wie unprofessionell die im Gesundheitswesen Tätigen mit den ihnen Anvertrauten kommunizieren. Die Fähigkeit hierzu ist hingegen das entscheidende Schlüsselelement, um das eigene Wissen (etwa zu der Frage, wie erfolgreich eine Chemotherapie ist) auf die Patienten zu übertragen, von denen jeder einzelne eine Persönlichkeit darstellt, in deren geistigen und intellektuellen Horizont kulturelle Herkunft, religiöse Bindung, Bildung, Wissen und Intelligenz sowie seine Lebensbiografie einfließen.

Dieser Kernfähigkeit zur professionellen Kommunikation im Arztberuf kommt in der Ausbildung zu wenig Bedeutung zu. Aber nur wenn der Patient durch den Arzt in seinem ihm angepassten Tempo und seinem Wunsch gemäß mitgeteilt bekommt, wie es um ihn steht, kann er zu einem informierten Entschluss kommen. Denn ihm und nur ihm obliegt die endgültige Entscheidung darüber, ob das, was getan werden könnte, auch getan werden soll. Dieser Aspekt wirkt auf das vierte Versäumnis: das richtige Abwägen dessen, was sinnvoll für den Patienten ist.

Kommen wir auf unseren 86-jährigen Patienten zurück, der wegen eines Lungenkrebsleidens operiert wurde und dem man danach freudestrahlend mitteilte, der Eingriff sei geglückt. Kurz vor Entlassung teilte man ihm dann mit, man könne zur Absicherung noch eine Chemotherapie durchführen, ob er das aber bei sich machen lassen wolle, könne er selber entscheiden. Jede Woche stellen sich mir solche Patienten vor. Sie sind ratlos, weil sie nicht wissen, was zu tun ist.

Eine Fallgeschichte ist 2011 in Fachkreisen heftig diskutiert worden. Es handelte sich um eine 32-jährige schwangere Frau, die nach einem Herz-Kreislauf-Stillstand wiederbelebt und in der 30. Schwangerschaftswoche von einem gesunden Sohn entbunden wurde. Im weiteren Verlauf war es wegen schwerer Hirnschäden nicht möglich, die Patientin von der künstlichen Beatmung zu entwöhnen. Es ging um die Frage, unter welchen Umständen die Beatmung abgebrochen werden und die Patientin sterben kann.

Vor diesem Hintergrund kommt der Indikation, der Heilanzeige, und der sich daraus ableitenden Handlungen wesentliche Bedeutung zu. Man versteht unter der medizinischen Indikation den begründeten Entschluss zu einer medizinischen Handlung. Der Entschluss ergibt sich aus dem Durchdenken der Krankheitszeichen und Befunde und der Bewertung des Einzelfalles, wobei die Prognose zu berücksichtigen ist. Natürlich gehört zur Frage, was man medizinisch unternehmen soll, auch, zu prüfen, wie wirksam eine Maßnahme ist. Das setzt als Maßstab aber immer ein Behandlungsziel voraus, das durch die auszuwählende medizinische Methode erreicht werden kann.

Am Lebensende und bei der Versorgung chronisch kranker Menschen ist häufig zwischen dem Ziel der Lebensverlängerung oder -erhaltung und dem Bessern oder Bewahren der Lebensqualität zu unterscheiden. Für eine lebensverlängernde Maßnahme kann ein weniger an Lebensqualität hinnehmbar sein, für das Bewahren der Lebensqualität ein weniger an Lebenszeit.

Wer aber legt die Prioritäten fest? Ist das nicht Sache des Patienten, der über diese Möglichkeiten aufgeklärt worden sein muss? Wer legt fest, was an den Grenzen des Lebens vernünftig ist? Tatsächlich ergibt sich aus dem medizinischen Fachwissen der Profis noch lange nicht das für den Patienten erstrebenswerte Behandlungsziel. Aus diesem Grund kann das Festlegen des Therapieziels nicht in ärztlicher Verantwortung liegen. Diese Position vertritt übrigens auch die Bundesärztekammer in ihren Grundaussagen zu den Prinzipien der Sterbebegleitung. Gerade weil in einer pluralistischen Gesellschaft unterschiedliche Positionen bestehen und akzeptiert werden müssen, resultieren daraus unterschiedliche Bewertungen hinsichtlich der Therapieziele.

Ein junger Mann mit fortgeschrittener Tumorerkrankung kann sich für eine Lebenszeitverlängerung von wenigen Monaten entscheiden, die ältere Patientin in vergleichbarer Situation nicht, weil sie es bevorzugt, bei guter Lebensqualität lieber noch einmal zu verreisen. Das Therapieziel legen beide Patienten fest, nicht die Ärzte. Voraussetzung ist die professionelle Aufklärung in Kenntnis der Prognose der Erkrankung und der Wahrscheinlichkeit des Ansprechens der Therapie aus wissenschaftlichen Studien.

Gelingt es, diese vier Ebenen besser in den medizinischen Alltag zu integrieren, würden unsinnige und damit unnötige Arzneimitteltherapien, Bestrahlungen und Operationen am Lebensende nicht mehr erfolgen, weil sie keinen Sinn ergeben – weil sie nicht dem Therapieziel entsprechen, das der Patient vorgibt. Tatsächlich aber wird der Lebenszeit gegenüber der Lebensqualität seitens der Ärzte nach wie vor eine viel zu hohe Bedeutung beigemessen, und der Grundsatz des „Primum non nocere“ („Zunächst einmal nicht schaden“) außer Acht gelassen.

Viele Patienten haben keine Vorstellung davon, wie es um sie steht. Aus diesem Grund machen sie nicht von ihrem Recht Gebrauch, eine medizinische Maßnahme zu verweigern. Das ist umso erstaunlicher, weil die Patientenverfügung juristisch verbindlich und einklagbar ist. Bei unzähligen alltäglichen Entscheidungen einwilligungsfähiger Patienten wird sich über Patientenwillen hinweggesetzt, weil mit den Kranken die Therapieziele zu selten besprochen werden.

Der Autor ist Chefarzt der Palliativstation der Karl-Hansen-Klinik in Bad Lippspringe.

Andreas S. Lübbe

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