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Prima Beziehung. Die Fixierung auf einen Goldfisch kann aber eine Selbsttäuschung sein.

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Philosophin Beate Rössler: "Autonomie ist eine abhängige Freiheit"

Nur wer selbstbestimmt ist, lebt sinnvoll, sagt die Philosophin Beate Rössler. Doch autonom sind wir nie allein. Ein Gespräch über das gelungene Leben und den Unterschied von Sinn und Glück.

Frau Rössler, der Philosoph John Stuart Mill erzählt in seiner Autobiografie, dass er als Vierjähriger begann, Griechisch zu lernen, mit 16 veröffentlichte er erste Texte. Er war ein Genie, das alles richtig machte. Aber er konnte nicht glücklich sein...

Das Interessante an Mills Geschichte ist, dass er zunächst sein junges Genie-Dasein lebte und zu akzeptieren schien. Dann aber geriet er in eine tiefe Depression, er selbst spricht von einer „mental crisis“, weil er erkannte, dass er eigentlich nur ausführte, was sein Vater ihm aufgezwungen hatte. Mill fühlte sich plötzlich vollkommen entfremdet von den Zielen und Werten, die er bis dahin verfolgt hatte. Er selbst schrieb das vor allem der Tatsache zu, dass sein Vater die emotionale Erziehung vernachlässigt und ihm Poesie und Literatur nicht nahegebracht hatte. Mill gelang es später, sein Leben wieder aufzunehmen und sich mit den ihm zunächst aufgezwungenen Normen und Werten auch wirklich zu identifizieren, nachdem er die emotionalen Seiten in sich entdeckt hatte.

Sie behaupten, dass ein Leben nur dann gelingen kann, wenn man es selbstbestimmt führt. Warum ist Autonomie so unverzichtbar?

Selbstbestimmung, also Autonomie, ist so grundlegend, weil wir nur das als sinnvoll erfahren, was wir uns selbst aneignen. Wir müssen das sichere Gefühl haben, dass wir wirklich unser eigenes Leben leben und nicht eines, das andere von uns erwarten, die Kirche zum Beispiel oder die Familie oder auch allgemeine gesellschaftliche Konventionen. Das heißt nicht, dass wir nicht konventionelle oder traditionelle Rollen erfüllen können. Ich kann zum Beispiel Kinder bekommen, weil auch meine Mutter Kinder bekommen hat. Aber das Entscheidende an der Autonomie ist, dass ich darüber nachdenke: Will ich das eigentlich wirklich, oder handle ich nur so, weil meine Mutter es vorgelebt hat? Im Englischen spricht man von „endorsement“, das heißt, ich akzeptiere, ich eigne mir die Rolle selbst an.

Das klingt wie eine rein psychologische Erklärung. Was ist das Philosophische daran?

Die Grenze zwischen Psychologie und dem, was wir in der Philosophie „moralische Psychologie“ nennen, sind tatsächlich fließend. Doch die Frage „Wie soll ich leben? Was ist das gute Leben?“ ist ein Grundproblem der praktischen Philosophie seit der Antike. Sie wird schon bei Platon und Aristoteles formuliert. In modernen Zeiten, also seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert, verschärft sich die Frage sogar noch, denn nun legt man überhaupt erst Gewicht auf das Individuum. Seither ist die Idee der Selbstbestimmung grundlegend für alle Moral- und Rechtsfragen in unserer Gesellschaft. Wir müssen selber entscheiden welchen Beruf wir wählen, welcher Religion wir anhängen oder auf welche Schule wir unser Kind schicken. Wir sind moralisch verantwortlich für diese Fragen, aber wir wollen es auch sein, weil wir sonst von unserem eigenen Leben entfremdet wären.

Hinter diese „Erfindung der Autonomie“, wie Sie das nennen, können wir nicht mehr zurück?

Nein. Joseph Raz, ein von mir sehr bewunderter Philosoph, schreibt: „Autonomie ist ein Fakt des Lebens“, jedenfalls in modernen, liberal-demokratischen Gesellschaften. Wenn wir nicht autonom sein können, dann können wir in unseren westlichen Gesellschaften nicht gelungen leben. Man muss sogar normativ formulieren: Wir sollen autonom sein – weil wir, wie Kant sagen würde, anders nicht moralisch handeln können. Ohne Autonomie könnten wir keine Verantwortung für unser eigenes Leben übernehmen. Und wir müssen Verantwortung übernehmen, weil wir erkannt haben, dass niemand anders sie übernehmen kann, kein Gott, keine Geschichte, kein Schicksal.

Weiter auf der nächsten Seite: Die Truman-Show oder warum unser Lebensentwurf auf wahren Annahmen beruhen sollte

Hängt denn dann die Entscheidung über ein gutes Leben nur noch von mir allein ab? Wenn ich – ganz autonom – den Sinn meines Lebens nun darin sähe, mit meinem Goldfisch zu sprechen oder die Grashalme in meinem Garten zu zählen, hätte ich dann ein gelungenes Leben?

Subjektiv mag das schon so scheinen. Aber es kann auch sein, dass ein Lebensentwurf auf falschen Annahmen beruht. Wenn ich glaube, dass ich eine prima Beziehung zu meinem Goldfisch habe, täusche ich mich vermutlich darüber, was so ein Goldfisch kann. Ein stärkeres Beispiel gibt der Film „Die Truman-Show“. Da entwickelt sich ein selbstbewusster junger Mann, er geht zur Schule, ergreift einen Beruf, er verliebt sich. Und dann stellt sich heraus, dass er in Wirklichkeit nur die Figur in einer riesigen Fernsehshow war. Man könnte nun sagen: Egal, wenn er sich doch wohl gefühlt hat. Aber in dem Moment, in dem er dahinterkommt, dass sein Leben gelenkt und geleitet wurde, verzweifelt er und versucht, sich zu befreien. Es ist wesentlich, dass unser Lebensentwurf auf wahren Annahmen beruht.

Und wie kann ich wissen, dass meine Annahmen wahr sind, dass ich mich nicht über meine Werte täusche?

Ein wichtiger Maßstab sind die anderen Menschen. Wir leben ja immer in Auseinandersetzung mit unserem Umfeld, wir lassen uns kritisieren, Freunde fragen „Warum machst du das?“ Wir versuchen, gute Gründe für unser Handeln zu geben. Und wenn wir keine guten Gründe finden, dann ist das ein deutlicher Hinweis darauf, dass etwas nicht stimmt. Ich kann mir zum Beispiel vormachen, dass ich eine große Sportlerin bin und ganz selbstbestimmt jeden Tag laufen gehe. Leider kommt immer etwas dazwischen. Spätestens wenn andere mich darauf hinweisen, muss ich erkennen, dass das Konstrukt „große Sportlerin“ nur in meinem Kopf besteht. Hier liegt ein ganz wichtiger Punkt: Autonom sind wir nie allein. Erst im sozialen Kontext können wir unsere Autonomie erproben. Und natürlich kann man sich täuschen. Selbstbestimmung kann immer auch scheitern.

Sie schreiben: „Ein autonomes Leben kann sinnvoll sein, ohne glücklich sein zu müssen.“ Warum machen Sie einen Unterschied zwischen Glück und Sinn des Lebens?

Ich unterscheide zwischen den beiden Aspekten, weil Glück sehr viel stärker von äußeren Umständen abhängig ist als Sinn. Das Glück, das wir meinen, wenn wir über das ganze Leben sprechen, ist abhängig davon, dass uns gewisse Dinge gelingen, dass wir gute Beziehungen leben können, den richtigen Arbeitsplatz finden, gesund bleiben. Diese Umstände, und das Glück, das sie spenden, haben wir nicht vollkommen selbst in der Hand. Bei der Frage nach dem Sinn ist das anders. Wenn ich zum Beispiel ein geliebtes Familienmitglied verliere, kann ich immer noch einen Sinn darin finden, Bücher zu schreiben. Man ist dann vielleicht nicht glücklich. Aber man kann ein sinnvolles Leben führen. Ich glaube, es ist eine allgemeine Erfahrung, dass es diese Differenz von Sinn und Glück gibt.

Das heißt dann aber auch, dass wir nie wirklich autonom sein können. Da beißt sich die Katze doch in den Schwanz ...

Natürlich kann man nicht alles selber bestimmen. Aber Autonomie bedeutet ja nicht, dass ich jetzt mal eben entscheide, mit meinen eigenen Flügeln nach Amerika zu fliegen. Und Autonomie heißt auch nicht, dass wir – wie Thomas Hobbes sich das vorstellt – wie einzelne Pilze aus dem Boden schießen und uns entwickeln. Autonomie ist sozusagen eine „abhängige Freiheit“. Sie ist abhängig von anderen, von persönlichen Fähigkeiten und auch von gesellschaftlichen Bedingungen. Bestimmte gesellschaftliche Umstände sind notwendig oder gut für Autonomie und ermutigen das selbstbestimmte Leben, andere verhindern es. Doch wir haben – in liberalen Demokratien – die Verantwortung für unser Leben selbst. Das finde ich auch feministisch einen wichtigen Punkt.

Sie verwenden das schöne Bild, dass Glück und Sinn Huckepack auf unseren Projekten reisen. Zusammenfassend könnte man also sagen, dass ein gelungenes Leben darin besteht, eigene, selbst gewählte Projekte zu verfolgen.

Genau das ist es. Und ich würde hinzufügen: Wenn man die Möglichkeit hat und wenn das Schicksal einem gnädig ist.

Das Gespräch führte Andrea Roedig.

BEATE RÖSSLER ist Professorin für praktische Philosophie an der Universität von Amsterdam. Unter anderem erschien von ihr die Studie „Der Wert des Privaten“.

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