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Irrglaube. Ein zeitgenössischer Karikaturist setzte sich um 1800 mit dem Begründer der Schädelkunde, Franz Joseph Gall (1758–1828), auseinander. Noch lange nach ihm wollten die Deutschen glauben, dass sie besonders große und besonders wohlgeformte Köpfe hatten.

© Ullstein

Physiognomik: Schädel nach Norm

Von der Kopfform wird auf den Charakter geschlossen. Chirurgen und Kulturhistoriker bearbeiten das Gebiet jetzt gemeinsam.

Wer glaubt, wir sehen mit offenen Augen in die Welt und auf unsere Mitmenschen, braucht Nachhilfe. Wenige Wahrnehmungen sind so mit Vorurteilen bepackt wie der Blick auf die Nächsten; auf Kleidung, Bewegung, Frisur, auf die Erscheinung insgesamt. Eine Hauptrolle spielt dabei der Kopf: Ist er groß oder klein, eckig oder rund, hat er eine fliehende Stirn, eine Adler- oder eine Stupsnase? Ist es ein Eierkopf, ein Dickschädel oder Flachkopf? Jedes äußere Merkmal besagt etwas über den inneren Menschen, so glauben wir alle und so handeln wir alle. Die dazugehörige Wissenschaft namens Physiognomik hat sich dennoch bisher schwergetan, diese Praxis aufzuklären, auch wenn sie die älteste Wahrnehmungslehre ist, die wir haben. „Wir urteilen stündlich, und wir irren stündlich“, hat der Physiker Lichtenberg unwiderlegbar gesagt.

Köpfe in Gestalt von nackten Schädeln haben dabei noch eine ganz eigene Geschichte. Schillers Schädel lag 150 Jahre lang hoch verehrt in der Weimarer Fürstengruft, bis man zuletzt zugeben musste, dass er so wenig zu Schiller gehört wie die übrigen Knochen, die man als Skelett um ihn drapiert hatte. Schillers Schädel – eine Leerstelle, frei für Phantasmen. Er könnte auch an ein bundesdeutsches Stück Zeitgeschichte erinnern: Auch Ulrike Meinhofs Kopf hat ja Schädelgeschichte geschrieben, denn der begrabene war entleert, das Hirn stand jahrelang in Tübingen und Magdeburg der Wissenschaft zur Verfügung.

Die Behauptung, wir aufgeklärten Zeitgenossen trieben uralten Schädelkult, lässt sich mit solchen Beispielen leicht belegen. Als Damien Hirst, der britische Künstler, 2010 einen Babyschädel vorstellte, den er mit Diamanten überzogen hatte, gab es zwar heftige Proteste, aber die vielschichtige Symbolkraft des Bildes war stärker.

So kann man auch das neueste Forschungsprojekt der Volkswagenstiftung für eine hoch faszinierende und zeitgemäße Angelegenheit halten. Zwei Institute haben sich in diesem Jahr zu einem „Schlüsselthema der Geisteswissenschaft“ – so das Label der Förderinitiative – zusammengefunden: der Kinderneurochirurg der Berliner Charité, Ernst-Johannes Haberl, und die Direktorin des Berliner Zentrums für Literatur- und Kulturforschung, Sigrid Weigel.

„Schädel-Basis-Wissen. Kulturelle Implikationen der plastischen Chirurgie des Schädels“ heißt das Projekt, das die VW-Stiftung mit 745 000 Euro fördern wird. Anlass für eine vorbildliche Kooperation zwischen Geistes- und Naturwissenschaft, denn vorgesehen ist eine dreijährige gemeinsame Arbeit, mit Tagungen, Veröffentlichungen, Stipendien, die beide Seiten einander näherbringen und übereinander aufklären soll. Stattfinden soll sie im Zeichen eines Körperteils mit gewaltiger Geistesgeschichte, der zugleich zu den heikelsten Objekten medizinischer Behandlung gehört. Denn am Ursprung des Projekts stehen jene angeborenen Missbildungen, sogenannte Craniosynostosen, die ein homogenes Zusammenwachsen der beiden Schädelhälften entlang der Schädelnähte verhindern.

In Deutschland gibt es jährlich rund 650 solcher Fälle. Haberl operiert sie seit15 Jahren; rund 400 Eingriffe dieser Art hat er bisher unternommen. Sein Verfahren ist erstaunlich und für den Laien geradezu wunderbar. Man überzieht die Schädel im Alter von drei Monaten nach einem kleinen Eingriff mit einer Art Helm, der den Zielschädel in Hohlform enthält und stetig nachreguliert wird. Diese sanfte Methode ersetzt eine ältere, das Kind sehr belastende Operation: Die Hirnschale von sechs Monate alten Babys wurde dabei auf ein Modell aufgebracht, dort zusammengesetzt, vermindert oder ergänzt und anschließend der vorhandenen Schädelbasis eingepasst.

Der Operationsablauf in seiner jetzigen Form ist nur durch eine 3-D-Simulation im Computer möglich. Damit können die Operateure erstmals systematisch nach einer geeigneten Schädelform suchen. Unzufrieden mit der bisherigen Praxis, wonach die Chirurgen mehr oder minder freihändig über die Rekonstruktion entschieden, hat Haberl in Zusammenarbeit mit dem Berliner Konrad-Zuse-Institut eine Datenbank entwickelt, die 20 bis 40 Musterköpfe von gesunden Kindern enthält. Diese können in beliebiger virtueller Fusion eine Vorlage für die gewünschte Schädelformation aus Kunststoff liefern. Die Technik steht kurz vor der Serienreife. Man müsse den Kindern eine individuelle, aber auch kontextuell passende Kopfgestalt verleihen, sagt Haberl. Dabei sollten weder Willkür noch eine allzu fixierte Norm herrschen. So hätten etwa türkische Kinder – bis zu 40 Prozent der kleinen Patienten in Haberls Klinik – eine etwas andere, rundere Kopfform als deutsche. Das neue Verfahren erlaube entsprechende Annäherungen.

Aus einer Datenbank mit Musterköpfen mischen die Operateure die gewünschte individuelle Kopfform. Daraus entsteht ein Modell, auf dem die Schädeldecke neu zusammengesetzt wird.
Aus einer Datenbank mit Musterköpfen mischen die Operateure die gewünschte individuelle Kopfform. Daraus entsteht ein Modell, auf dem die Schädeldecke neu zusammengesetzt wird.

© Zachow, Lamecker/ZIB; Haberl/Charité

Genau bei der Frage nach der Norm wird die historische Diskussion durch das Weigel-Institut einsetzen. Nichts hat den Rassismus der vergangenen 200 Jahre ja mehr beflügelt als die perverse Konkurrenz der Schädel in wissenschaftlicher Wahrnehmung. Der Medizinhistoriker Michael Hagner hat dieser zum Teil monströsen Geschichte maßgebliche Studien gewidmet. Haberl und Weigel sind sich einig, dass die Medizin, vor allem in Deutschland, diese Geschichte gern vergisst. Ein Ziel des Forschungsvorhabens ist es nicht zuletzt, diese Perspektive in die Curricula von Medizin- und anderen Studiengängen hineinzubringen.

Wer hier als Operateur eingreift, sollte jedenfalls eine annähernde Vorstellung von der Norm haben, auf die hin operiert werden soll, sagen die beiden Forscher. Eine solche Norm, nein, mehrere solche Normen gibt es für Schädel seit mindestens 200 Jahren – nicht nur in der engeren Medizingeschichte, sondern eben auch in Biologie, Kunst, Ethnologie, ja sogar Dämonologie. Bahnbrechend wurde um 1800 der österreichische Arzt und Anatom Franz Josef Gall, Begründer der sogenannten Phrenologie oder Schädelkunde, die damals begeistert aufgenommen wurde. Am Schädel haben sich die wildesten evolutionären Hoffnungen entzündet; zwar nicht bei Darwin, wohl aber bei vielen anderen.

Zu Recht in der Satire gelandet ist der Aberglaube des romantischen Gynäkologen Carl Gustav Carus, wonach vor allem „der Deutsche“ über jenen großen Schädel verfügt, dessen „hohe und breite Wölbung“ auf ein großes Hirn schließen lässt. Fast hundert Jahre hat es gedauert, um die Vorstellung zu widerlegen, dass große Köpfe auch große Gehirne und damit große Intelligenz beherbergen.

Um über derartige Fehlurteile aufzuklären, liefert das Projekt differenzierte und reichhaltige Angebote auf kulturwissenschaftlicher Seite unter Leitung von Sigrid Weigel. Texte werden untersucht (wie formulieren Chirurgen ihr Tun), Bilder (welche Musterköpfe gibt es in der Geschichte wissenschaftlicher und künstlerischer Bildgebung) und Praktiken. Zu Letzterem gehört eine Patientenbegleitung. Man wird die Eltern von Kindern mit deformierten Schädeln befragen und auch den Entwicklungsprozess beobachten, erklärt Haberl. Man wird mit den Eltern über die zu wählende Zielform des Kopfes sprechen und das Bewusstsein sowohl für die OP-Technik als auch für die Diskurslage wecken.

Geschichte und Gegenwart dieses Wissens sollen einfließen ins öffentliche Bewusstsein nicht weniger als in die Praxis des Studiums. Endlich könnte die alte Phrenologie zu Grabe getragen werden.

Claudia Schmölders

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