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© Lars von Törne

Pisa und die Folgen: Das flexible Klassenzimmer

Bei Pisa liegt Kanada immer an der Spitze. Warum? Auf der Suche nach Antworten.

Im Klassenzimmer herrscht Durcheinander. Zwölf Kinder im Alter zwischen vier und fünf Jahren spielen gemeinsam und plaudern dabei pausenlos. Die drei Jungen am Basteltisch reden überwiegend Somali, die Mädchen am Puppenhaus unterhalten sich auf Kurdisch, und vom Sandkasten in der Ecke her ist ein Gemisch aus Arabisch und Englisch zu hören. Außerdem sitzt zwischen den spielenden Kindern auch noch ein Junge mit Down-Syndrom, der sich gar nicht mit Worten verständlich machen kann. Für viele Lehrer wäre dieses Klassenzimmer in der Balwin-Schule, einer staatlichen Ganztagsschule am Stadtrand der westkanadischen Metropole Edmonton, ein Albtraum. Für Direktor Dean Michailides ist es ein Musterbeispiel für die Besonderheiten des kanadischen Bildungssytems. „Es ist phantastisch, wie diese Kinder in wenigen Wochen an Selbstvertrauen gewonnen haben“, sagt er und setzt sich an den Rand des Sandkastens. „Die meisten kommen aus Familien, in denen die Bildung wenig zählt“, erklärt der Direktor, zu dessen Einzugsgebiet einige der ärmeren Stadtrandviertel gehören, in denen sich vor allem neue Einwanderer niederlassen. „Also haben wir eine Klasse eröffnet, in der die Kinder das Lernen lernen, bevor sie mit den anderen Kindern zusammen in eine reguläre Klasse gehen.“

Bei Pisa liegt Kanada immer in der Spitzengruppe, so auch diesmal. Was machen die Kanadier anders? Dean Michailides fasst seine Philosophie mit einem Satz zusammen, wie man ihn an vielen kanadischen Schulen hört. „Die Eltern schicken uns ihre besten Kinder, also geben wir jedem die bestmögliche Bildung.“ Basis ist eine Mischung aus integrativen Konzepten und individueller Förderung, die das Einwanderungsland über Jahrzehnte entwickelt hat. An der Schule von Rektor Michailides beginnen die meisten Kinder, wie in Kanada üblich, mit vier oder fünf Jahren in der Vorschule, wo sie von Lehrern unterrichtet werden, die die gleiche Hochschulausbildung haben wie Lehrer der höheren Klassen. In dieser Schule bleiben die Kinder bis zum Ende der neunten Klasse, nach der sie auf eine weiterführende Schule gehen. Der Rektor verfügt über ein eigenes Budget für seine Schule. Davon hat Michailides für die Förderklasse drei Hilfslehrerinnen engagiert, die den Vorschülern in ihrer jeweiligen Muttersprache Grundkenntnisse im Lesen, Schreiben oder Rechnen beibringen. Parallel dazu bekommen die Kinder Unterricht in Englisch. „Wir wollen, dass sie eine Verbindung zu ihrer Herkunftskultur halten“, sagt Michailides und verweist auf den in Kanada zur Staatsphilosophie erhobenen Multikulturalismus. „Dann lernen sie alles andere viel leichter, und irgendwann werden sie auch perfekt Englisch sprechen.“ So wie der Schuldirektor selbst, dessen Eltern einst aus Griechenland einwanderten: „Jeder hat ein anderes Tempo – ich habe erst in der elften Klasse richtig Englisch gelernt“, sagt er.

Flexible Sprachförderung wie in der Schule von Michailidis ist eine der Grundvoraussetzungen. Ein anderer wichtiger Punkt ist die Feinabstimmung zwischen Lernzielen und Schülerergebnissen. „Wir erarbeiten die Lehrpläne gemeinsam mit Vertretern der Lehrer, der Eltern, der Schüler und der Lehrbuchverlage, damit alle Beteiligten wissen, was von ihnen verlangt wird“, erklärt Joan Engel vom Bildungsministerium des Bundeslandes Alberta. In standardisierten Tests erfahren die Schulen, wie ihre Schüler im Vergleich mit anderen abschneiden. „Jeder Lehrer bekommt detaillierte Rückmeldungen, wo er mit seinen Schülern nacharbeiten muss.“ Pädagogen sind angehalten, mindestens einmal pro Jahr Seminare und Spezialisierungskurse zu besuchen. „Wer bei uns Lehrer wird, verpflichtet sich zu lebenslangem Lernen.“ Für Schulen mit Nachholbedarf gibt es einen Topf, aus dem zum Beispiel zusätzliche Englischlehrer bezahlt werden. Im Jahr gibt Alberta umgerechnet rund 5800 Euro für die Bildung eines jeden Schülers aus – ein Drittel mehr als Deutschland. Mit rund sieben Prozent seines Bruttoinlandproduktes investiert Kanada mehr Geld in die Bildung als jedes andere OECD-Land.

Geld alleine kann die guten kanadischen Resultate aber nicht erklären, betont Lehrerin Kerri McLaughlin-Phillips, die an der St.-Joseph-Schule in einem der sozial schwierigen Innenstadtviertel Edmontons für die Sprachausbildung von Einwandererkindern verantwortlich ist: „Wir machen unseren Schülern klar, dass ihr Überleben in dieser Gesellschaft davon abhängt, wie sie in der Schule abschneiden.“ Diese Einstellung wird offenbar von vielen Eltern geteilt – Nebeneffekt der selektiven kanadischen Immigrationspolitik, die Einwanderer zum großen Teil nach ihrer Qualifikation auswählt. Dennoch kommen nicht nur Musterschüler, sagt Kerri McLaughlin-Phillips und berichtet von Bandenkriegen in ihrem Viertel und Konflikten unter den Schülern. Ihre Schule richtete ein Büro für einen Polizisten ein, der jetzt regelmäßig durch die Schule patrouilliert und den Kindern Seminare zur Konfliktvermeidung gibt.

Die St.-Joseph-Schule bietet den aus Einwandererfamilien stammenden Kindern – in den meisten Großstädten Kanadas ist das jeder zweite Schüler – umfangreiche Hilfskurse an, in denen sie auch Mathematik oder naturwissenschaftliche Fächer so vermittelt bekommen, dass sie mit geringen Englischkenntnissen folgen können. Gleichzeitig wird den Schülern und auch den Eltern deutlich gemacht, dass man von ihnen erwartet, dass sie in wenigen Jahren Englisch gelernt haben. Dabei helfen auch „Study Buddies“, Schülerpaaren, in denen jeweils einer schon Englisch kann und dem anderen helfen muss. Außerhalb der Sprachklassen herrscht strenge Englisch-Pflicht. Von Sprachproblemen, wie an deutschen Schulen mit hohem Einwandereranteil, ist hier nichts zu hören.

Auch eine andere Besonderheit des deutschen Schulsystems löst bei kanadischen Lehrern und Schuldirektoren immer wieder Erstaunen aus: die frühe Trennung in Haupt- und Realschule sowie Gymnasium. „Wie kann man Schüler auf ein bestimmtes Niveau festlegen, bevor sie die Gelegenheit hatten, ihre Fähigkeiten vollständig zu entwickeln?“, wundert sich Thomas Longridge, Direktor der West Vancouver Secondary School, einer Schule an Kanadas Pazifikküste. Er verteidigt das kanadische Prinzip, alle Kinder über acht, neun oder mehr Jahre gemeinsam in einer Schule zu unterrichten, bevor sie auf weiterführende Schulen gehen – auch wenn das gerade in den Großstädten manchmal nicht einfach ist: „Wir haben Klassen mit sehr unterschiedlichen Leistungsniveaus, das ist für unsere Lehrer eine große Herausforderung“, sagt der Rektor.

Aufgeben würde er das System deswegen nie. Der reguläre Unterricht an der West Vancouver Secondary School wird durch spezielle Klassen für Schüler mit Lernschwächen oder Behinderungen ergänzt, ebenso durch spezielle Sprachkurse für Einwanderer. Auch im gemeinsamen Unterricht wird auf Binnendifferenzierung gesetzt: Immer wieder werden die Klassen in unterschiedliche Gruppen aufgeteilt – mal nach Leistung getrennt, damit Schüler gleicher Niveaus gemeinsam arbeiten können, und mal gemischt, damit die besseren Schüler den schlechteren helfen und dabei beide etwas lernen. Wer trotzdem nicht mithalten kann, hat die Möglichkeit, einzelne Kurse zu wiederholen; ein generelles Sitzenbleiben gibt es in Kanada nur in seltenen Ausnahmen. „Es ist uns wichtig, die Möglichkeiten eines jeden Schülers zu entwickeln“, sagt der Direktor – „auch wenn das manchmal sehr anstrengend ist“.

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