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Das Bild zeigt Gert G. Wagner und Cornelius Richter.

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Plagiatsvorwurf gegen Ursula von der Leyen: 100 medizinische Doktorarbeiten prüfen – und dann urteilen

Zwei Vorstände des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung verteidigen Ursula von der Leyen: Wurde in der Medizin in den 90ern generell ungenau zitiert, treffe die Ministerin kein Vorwurf.

Es stimmt: Ein Plagiator kann sich nicht individuell damit herausreden, dass „zu seiner Zeit“ das exakte Zitieren nicht so wichtig genommen wurde. Denn das ist erst einmal eine bloße Behauptung. Wenn sich aber empirisch zeigen ließe, dass in einer bestimmten Disziplin und zu bestimmten Zeiten ein großer Teil der Doktorierenden und Habilitierenden es mit dem Zitieren nicht so genau nahm, ist die Lage eine ganz andere. Denn dann sind es die besser gewordenen Standards, die heutzutage Plagiate ahnden und verhindern.

Den einzelnen „Tätern“ kann man dann ihr in der Vergangenheit allgemein übliches Tun nicht mehr vorwerfen. Sie haben ja nichts anderes getan als ihre Kolleginnen und Kollegen auch – und dies mit Billigung ihrer Gutachter, also der „Scientific Community“, die festlegt, was in einem Fach als „state of the art“ gilt.

Was Wissenschaft ist, handeln Wissenschaftler immer wieder neu aus

Die Vorstellungen mancher Kommentatoren im Fall Ursula von der Leyens, dass gewissermaßen objektiv feststeht, was Wissenschaft ist und wie sie zu betreiben ist, ist empirisch falsch. Was als wissenschaftlicher Beweis gilt und welche Empirie akzeptiert wird, ist eine Vereinbarung aller Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einem bestimmten Feld. Da es darüber gelegentlich Streit gibt, spalten sich auch ganze Felder ab. Psychologie, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften sind so aus Philosophie und Staatswissenschaften entstanden. Im Rechtswesen ist die Auslegung von Gesetzestexten zeitgebunden und hängt von den Mehrheiten unter den Juristen ab. So wird „Sittenwidrigkeit“ heute wie Anfang des 20. Jahrhunderts als das umschrieben, was dem „Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“ widerspricht, es überrascht aber nicht, dass damit heute ganz andere Ergebnisse erreicht werden als vor über 100 Jahren. Ein nicht unerheblicher Teil der Jurisprudenz beschäftigt sich mit nichts anderem als dem Hinterfragen und Neuauslegen unveränderter Gesetzestexte.

Leyens Gutachter hätte etliches nicht durchgehen lassen dürfen

Wie sieht es nun in der Realität mit dem „korrekten“ Zitieren in Dissertationen aus? Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass ein Gutachter der Dissertation Ursula von der Leyens, der die Arbeit tatsächlich kritisch gelesen hätte, etliche Behauptungen und Zitate nicht hätte durchgehen lassen dürfen. Wenn zum Beispiel ein Schiffsarzt – ohne Quellenangabe – zitiert wird, dann hätte ein Betreuer oder Gutachter an den Rand schreiben müssen „Woher wissen Sie das?“. Wenn das unterblieb, kann man der vermutlich schlecht betreuten und schlecht geschulten Doktorandin keinen Vorwurf machen.

Im Hinblick auf die Wirklichkeit des Schreibens und des Begutachtens von Dissertationen machen es sich die Plagiats-Jäger von Vroniplag Wiki nicht nur zu leicht, sie machen wohl auch einen methodischen Fehler. Auf die Frage in den FAQs auf ihrer Homepage „Wo ist die Liste der ,untersuchten‘ und unbeanstandeten Arbeiten?“ antworten sie: „Eine solche Liste gibt es nicht, da die sehr aufwendige kollaborative Detailarbeit nur dann anläuft, wenn ein begründeter Anfangsverdacht vorliegt.“ Weiter heißt es: „Es ist unsinnig von ,geprüften‘, aber unverdächtigen Arbeiten zu sprechen.“

Opfer einer unzureichenden wissenschaftlichen Kultur

Genau diese Behauptung von Vroniplag Wiki ist aber „unsinnig“: Nur wenn die beanstandeten Arbeiten sich statistisch signifikant von den zur selben Zeit im selben Fach geschriebenen Dissertationen und Habilitationen (also im Hinblick auf plagiierte Stellen) unterscheiden, kann man den Autorinnen und Autoren einen individuellen Vorwurf machen. Ansonsten sind sie Opfer einer unzureichenden wissenschaftlichen Kultur oder flächendeckend schlechter Instruktion zu ihrer Zeit in ihrem Fach! Damit ist noch nichts über die Qualität der Inhalte und über die Innovationskraft der Gedanken einer wissenschaftlichen Arbeit selbst gesagt.

Die Promotions-Kultur in der Medizin genauer ansehen

Wir wollen uns daher auch kein Urteil über die Qualität medizinischer Dissertationen erlauben. Natürlich fällt aber auf, dass diese Qualität immer wieder Gegenstand akademischer Diskurse ist. Auch im Wissenschaftsrat war die Wissenschaftlichkeit medizinischer Dissertationen immer wieder Gegenstand kritischer Anmerkungen. Es ist deswegen ein Gebot der Fairness, Ursula von der Leyen nicht vorschnell zu verurteilen, sondern den „Skandal“ zum Anlass zu nehmen, sich die Promotions-Kultur in der Medizin genauer anzusehen und gegebenenfalls strukturelle Konsequenzen zu ziehen.

Bis zur Klärung sollte Vroniplag Wiki seine Seite abschalten

Eine individuelle Prüfung der Dissertationsschrift von Ursula von der Leyen durch die Universität Hannover, womöglich anhand heutiger Maßstäbe, reicht nicht aus. Vielmehr sollte eine methodisch ernst zu nehmende Begutachtung, egal ob durch Vroniplag Wiki oder die Medizinische Hochschule in Hannover, etwa 50 bis 100 medizinische Dissertationen aus der Zeit um 1990 herum zufällig auswählen und untersuchen (ohne Namen zu nennen). Erst danach kann man sehen, ob die Ursula-von-der-Leyen-Dissertation aus dem Rahmen fällt.

Solange diese zugegebenermaßen mühsame Arbeit nicht geleistet wird, sollte Vroniplag Wiki – nicht nur für die Medizin – seine Homepage fairerweise abschalten.

Die Autoren sind Vorstandsmitglieder des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin). Cornelius Richter ist Jurist und DIW-Geschäftsführer. Gert G. Wagner war von 2002 bis 2008 Mitglied des Wissenschaftsrats.

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