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Wissen: Planet Mensch

Der menschliche Körper ist von Billionen Mikroben besiedelt. Forscher beginnen, diese Vielfalt zu entschlüsseln. Sie kommen zu einer überraschenden Erkenntnis: Eigentlich ist der Mensch ein eigenes Ökosystem

Die schlechte Nachricht zuerst: Sie sind in der Unterzahl – und das in Ihrem eigenen Körper! Etwa 100 Billionen Bakterien leben auf Ihrer Haut, in Ihrem Mund, in Ihrem Magen. Auf jede ihrer Körperzellen kommen etwa zehn Zellen von Bakterien, die Sie besiedelt haben. Wissenschaftler bezeichnen die Gesamtheit dieser Mikroorganismen als Mikrobiom und sie beginnen, es systematisch zu untersuchen.

Die gute Nachricht: Die Forscher stellen fest, dass ein Großteil der Bakterien dem Menschen nicht schadet und ihm sogar unverzichtbare Hilfe leistet. Damit ändert sich die Sicht auf die Mikroorganismen radikal. Seit den Zeiten Robert Kochs ist das Verhältnis Mensch–Mikrobe als ein Kampf gegen die Keime beschrieben worden. Bakterien, das waren Cholera, Pest, Tuberkulose – oder jüngst der Ehec-Erreger O104. Aber diese gefährlichen Krankheitserreger sind die Ausnahme. Es sei Zeit, das alte Denkmuster „Wir gut – die böse“ abzulegen, hat der amerikanische Nobelpreisträger Joshua Lederberg gesagt. „Das Mikrobiom zu verstehen, bedeutet zu erkennen, dass wir in einem kooperativen Miteinander leben – in einer Art Waffenruhe – und dass die Mikroben uns keineswegs umbringen wollen.“

Im Gegenteil, die Mikroben leisten einen Beitrag, auf den der Mensch kaum verzichten kann. Zum einen bilden sie unsere erste Verteidigungslinie. Sie blockieren die Oberflächen, die sonst von gefährlichen Keimen besiedelt werden könnten. Außerdem produzieren viele von ihnen antimikrobielle Stoffe, wie Wasserstoffperoxid, die andere Bakterien vertreiben.

Aber auch bei der Verdauung mischen die Mikroben mit. So gibt es zahlreiche Kohlenhydrate wie Hemizellulose oder Pectin, die der Mensch mit der Nahrung zu sich nimmt aber nicht verdauen kann. Die Darmbakterien wandeln diese Stoffe in Fettsäuren um, die der Mensch dann aufnehmen kann. So erschließen sie Nahrungsquellen, die dem Menschen sonst verschlossen wären. „Beim Menschen ist der Beitrag viel kleiner als bei Wiederkäuern, aber auch wir können Nahrung dank unserer Bakterien besser verwerten“, sagt Michael Blaut vom Deutschen Institut für Ernährungsforschung in Potsdam-Rehbrücke.

Auch andere Stoffe, die wir mit unserer Nahrung aufnehmen, werden vom Mikrobiom zu unseren Gunsten umgewandelt. Isoflavonoide zum Beispiel, eine Gruppe von Molekülen, deren Struktur der von Östrogenen ähnelt. Sie verringern möglicherweise das Brustkrebsrisiko. In ihre aktive Form werden sie aber erst durch Bakterien im menschlichen Verdauungstrakt umgewandelt. Auch Medikamente und körpereigene Stoffe werden aktiviert, umgewandelt, abgebaut. Selbst auf den Genuss von Obst und Gemüse haben die Mikroorganismen einen Einfluss: Einige Aromastoffe entstehen im Mund erst durch die Arbeit von Mikroben. Auch Weißwein würde ohne die Untermieter in der Mundhöhle anders schmecken.

Viele Forscher sehen den Menschen deshalb inzwischen als „Superorganismus“, als ganzes Ökosystem, das sie nur verstehen können, indem sie alle Arten untersuchen. Dass immer mehr Wissenschaftler diese Sichtweise teilen, ist auch neuen Technologien zu verdanken, die es erstmals ermöglichen, einen Überblick über das Leben in und auf dem Menschen zu bekommen. „Früher musste man die Bakterien immer in der Petrischale kultivieren, heute kann man auch Bakterien nachweisen, die sich so gar nicht züchten lassen“, sagt Blaut. Mithilfe moderner Sequenziermaschinen und Computerprogramme können Forscher das gesamte genetische Material in einer Speichelprobe oder einer Stuhlprobe entziffern und daraus Rückschlüsse darauf ziehen, wie viele verschiedene Bakterien und welche dort vorkommen.

Das Humane-Mikrobiom-Projekt der amerikanischen staatlichen Gesundheitsinstitute hat sich eine Art Volkszählung des Mikrobioms zum Ziel gesetzt. 2013 soll das Projekt abgeschlossen sein, aber eines der ersten Ergebnisse zeichnet sich bereits ab: Der Mensch hat mehr Besiedler als gedacht. „In den Lehrbüchern stand lange, dass es im Darm etwa 400 bis 500 Bakterienarten gibt, inzwischen wissen wir, dass dort 1000 bis 3000 Arten leben“, sagt Stephan Bischoff, Ernährungsmediziner an der Universität Hohenheim. Ähnliches gilt für andere Orte.

Und diese Bakterienspezies bringen hundert Mal mehr Gene mit sich, als der Mensch in seinen eigenen Körperzellen hat. Viele dieser Gene sind Bauanleitungen für Eiweiße, die wichtige Funktionen haben: Sie bauen Nährstoffe ab, die wir sonst nicht verwerten könnten, setzen Moleküle in aktive Formen um, unterstützen das Immunsystem, wehren andere, gefährliche Bakterien ab. „Es würde mich überhaupt nicht wundern, wenn da weitere Gebiete hinzukommen“, sagt Bischoff. „Die Vielzahl der Gene, die in diesen Bakterien gefunden wurden, lässt vermuten, dass da noch einige Schätze gefunden werden.“

Und Bakterien haben einen Vorteil: Weil bei ihnen eine Generation im Stunden- oder gar Minutentakt auf die nächste folgt, läuft die Evolution rascher ab. Sie können sich also rascher an sich ändernde Umweltbedingungen anpassen. Hinzu kommt, dass sie ganze Gruppen von Genen von anderen Bakterien aufnehmen können. Forscher nennen das lateralen Gentransfer. Auf der einen Seite werden Antibiotikaresistenzen und andere gefährliche Gene weitergegeben. Andererseits können die Mikroben im Darm so auch neue, nützliche Eigenschaften erlernen.

So verkündeten französische Forscher im vergangenen Jahr im Fachblatt „Nature“, dass die Darmbakterien von Japanern eine Art „Sushi-Gen“ aufgenommen haben. Die Wissenschaftler um Mirjam Czjzek waren zuerst bei dem Meeresbakterium Zobellia galactanivorans, das sich von den Zellwänden von Algen ernährt, auf die Gene gestoßen. Zu ihrer Überraschung fanden die Forscher das gleiche Erbgut aber auch im menschlichen Darmbakterium Bacteroides plebeius, allerdings nur bei Japanern. Bei einer Gruppe von 18 Amerikanern war die Suche dagegen erfolglos. „Offenbar haben Menschen, die häufig Algen essen, auch diese Bakterien zu sich genommen, und die haben das Gen dann weitergegeben an die sesshaften Darmbakterien“, sagt Czjzek.

Woher kommen diese sesshaften Bakterien? Im Mutterleib ist das Baby noch keimfrei. Doch die ersten Wochen im Leben eines Neugeborenen sind auch die Geschichte einer Besiedlung. Die ersten Mikroben nimmt das Baby bereits im Geburtskanal auf. Dafür verändert sich pünktlich vor der Geburt sogar die Vaginalflora der Mutter: Es werden mehr Laktobazillen angesiedelt, damit das Kind zuerst mit diesen erwünschten Bakterien in Berührung kommt. Beim Stillen gesellen sich dann weitere Besiedler hinzu. Schon 24 Stunden nach der Geburt beherbergt das Baby auf jedem Quadratzentimeter Haut 1000 Mikroben.

Wie wichtig diese frühe Besiedelung ist, zeigt auch das Schicksal frühgeborener Kinder. Da sie meist durch einen Kaiserschnitt zur Welt kommen, fehlt bei ihnen der Kontakt mit dem Mikrobiom des Geburtskanals und sie können von anderen Bakterien besiedelt werden. Im schlimmsten Fall kann das zu gefährlichen Erkrankungen wie der nekrotisierenden Enterkolitis führen.

Auch bei Gesunden ist das Mikrobiom von Mensch zu Mensch unterschiedlich. „Die meisten Menschen haben zwar die gleichen Bakterienarten im Darm“, sagt der amerikanische Mikrobiologe Martin Blaser. „Aber je genauer wir da hingucken umso größer sind die Unterschiede.“

Sie können auch darüber entscheiden, ob ein Mensch krank wird oder nicht. So ist seit Jahren bekannt, dass Menschen, die eine hohe Zahl Bakterien der Art Oxalibacter formigenes beherbergen, ein geringeres Risiko haben, Nierensteine zu bilden. Denn Nierensteine bestehen häufig zu einem Teil aus Oxalsäure und die kann dieses Bakterium spalten. Forscher untersuchen inzwischen auch den Einfluss des Mikrobioms auf Schuppenflechte, ADHS, Tourette-Syndrom, Diabetes und andere Krankheiten. Auch zwischen übergewichtigen und dünnen Menschen haben sie Unterschiede in der Darmflora gefunden.

Blaser glaubt, dass Veränderungen in unserem Mikrobiom erklären könnten, weshalb Krankheiten wie Asthma viel häufiger auftreten als noch vor wenigen Jahrzehnten. „Wir haben heute sauberes Trinkwasser, Antibiotika, mehr Kaiserschnitte. Das alles hat auch unser Mikrobiom beeinflusst und damit vermutlich auch unser Risiko für bestimmte Krankheiten“, sagt er. Blaser nennt es die „Hypothese des verschwindenden Mikrobioms“.

Tatsächlich gibt es Anzeichen dafür: Helicobacter pylori trägt der Mensch seit mindestens 60 000 Jahren in sich (s. Kasten). Früher war der schraubenzieherförmige Keim das häufigste Bakterium im Magen des Menschen. Aber seit es in den 80er Jahren als die häufigste Ursache von Magengeschwüren ausgemacht wurde, wird der Keim in vielen Fällen mit Antibiotika bekämpft. Inzwischen gibt es Hinweise darauf, dass Helicobacter auch seine gute Seiten hat, vor allem in jungen Jahren. So könnte das Bakterium unter anderem das Risiko reduzieren, als Kind Asthma zu entwickeln. „Möglicherweise wird man in Zukunft Kindern Helicobacter geben und dann bei Erwachsenen bekämpfen“, sagt Blaser.

Eine Lehre lässt sich vielleicht schon jetzt ziehen: Antibiotika haben einen dramatischen Einfluss auf das Mikrobiom des Menschen. „Niemand kann infrage stellen, dass Antibiotika ein Segen für die Menschheit sind, aber wir greifen zu schnell nach ihnen“, sagt der Mediziner Bischoff. Eines ist klar: Wer den Menschen als einen ganzen Planeten versteht, dessen Bewohner in einem komplizierten Gleichgewicht leben, der muss nicht nur akzeptieren, dass er im eigenen Körper in der Unterzahl ist, sondern auch, dass es für viele Krankheiten keine einfachen Antworten geben wird.

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