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Reinhard Bernbeck, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin

© privat

POSITION: Die Opfer nicht erneut zu Objekten machen

Es wäre unethisch gewesen, die Knochen aus Dahlem weiter zu untersuchen. Meint Reinhard Bernbeck, Professor für Vorderasiatische Archäologie an der Freien Universität Berlin.

Anfang Juli 2014 wurden in Dahlem Knochen gefunden. Der Fund sah verdächtig danach aus, als ob niemand anderes als Josef Mengele die Knochen aus Auschwitz an das damalige Kaiser Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik geschickt hätte. Diese menschlichen Reste wurden im Dezember in ethisch wie symbolisch unerträglicher Weise im Krematorium Ruhleben eingeäschert. Der Historiker Götz Aly schreibt nun dazu in der „Berliner Zeitung“, dass die von Mengele angestellten mörderischen Menschenversuche noch stärker als bislang vermutet auf den Ursprung Auschwitz verweisen. Denn Mengele habe an Fehlbildungen von Gliedmaßen gearbeitet, und genau Reste solcher Knochen seien nun in Dahlem gefunden worden.

Die Knochen sind kein Forschungsgegenstand

Alys Vermutung, es handele sich bei den Opfern um „Juden, Sinti und Roma“ ist daher naheliegend, und er beklagt, dass die Einäscherung nunmehr eine DNS-Analyse zur Feststellung des Verwandtschaftsgrades oder eine genauere Untersuchung über potenzielle Verbildungen in den Knochen unmöglich gemacht habe.

Mit seinem wiederholt geäußerten Ansinnen würde Götz Aly allerdings aus den Menschen, die damals umkamen, zum zweiten Mal Opfer machen. Er kommt nicht auf die Idee, sich die Frage zu stellen, wie sich die Opfer von damals zu diesen Untersuchungsmethoden stellen würden. Vielmehr sind ihm die Knochen Forschungsgegenstände, um die historische Wahrheit zu ergründen.

Das ist eine wissenschaftliche Einstellung, die die schändlich Ermordeten ein weiteres Mal zu Objekten degradiert. Gerade aufgrund der verbrecherischen medizinischen Praxis von Mengele und anderen SS-Ärzten wurden im NS-Ärzteprozess 1946–47 die Prinzipien des Nürnberger Kodex formuliert, die für medizinische Versuche bis heute international gelten. Sie beruhen zuallererst auf „informierter Einwilligung“ potenzieller Versuchspersonen. Niemand darf der medizinischen oder sonstigen Forschung unterzogen werden, wenn sie oder er nicht im vollen Besitz des Bewusstseins zugestimmt hat.

Eine ergebnisorientierte Attitüde ist unangebracht

Dies scheint auf die hier angesprochenen Menschen, da sie nicht mehr leben, gar nicht zuzutreffen. Bedeutet das aber, dass man über Tote und deren Gebeine wie naturwissenschaftliche Proben nachdenken und sie dementsprechend behandeln darf? Was sind ethische Grundlagen, um diese Frage zu beantworten? Der 1989 beschlossene Vermillion Accord des World Archaeological Congress formuliert hierzu, die potenziellen Vorstellungen der Menschen, auf deren Gräber oder Reste man stößt, seien zu ergründen, bevor man sich an die Ausgrabung oder gar eine physisch-anthropologische Analyse macht.

Eine rein ergebnisorientierte Attitüde für solche Pläne wäre also unangebracht. Dementsprechend hatte ich am 18. Januar, bevor ich noch von der Einäscherung der Dahlemer Funde wusste, zwei mit solchen Fragen befasste Kollegen in den USA und Israel um ihre Meinung nach einem adäquaten Umgang gefragt. Neil A. Silberman schrieb zu einer potenziellen DNA-Analyse, die auch mir in den Sinn gekommen war: „Eine DNS-Analyse wäre eine verhängnisvolle Nachstellung der ‚wissenschaftlichen’ Verbrechen gegen die Menschheit und gegen die Grundsätze medizinischer Ethik. Nochmals würden Menschen per Laboranalyse zu biologischen und ethnischen Typen reduziert.“ Apodiktischer formuliert der Kollege Isaac Gilead, das Gebot der jüdischen Totenruhe erwähnend: „Hüte Dich vor gemischten Kontexten und Knochen.“

Bohrendes, aber unvermeidliches Nichtwissen

Im Krematorium Ruhleben wurden die Knochen als potenzielle Evidenz eines Menschheitsverbrechens vernichtet. Doch hätten sie bei angemessener Erhaltung ebenfalls nicht zur Verfügung stehen dürfen, um zu ergründen, ob sie aus Auschwitz stammen. Wir stehen vor einem Paradox. Die naturwissenschaftlichen Mittel für eine genauere Kenntnis der Herkunft der Opfer sind selbst so belastet, dass wir eben diese Herkunft nicht ermitteln dürfen. Möglich gewesen wäre einzig ein respektvolles Begräbnis, begleitet von bohrend-unvermeidlichem Nichtwissen.

Reinhard Bernbeck

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