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Gefährlicher Lebensstil. Claus Leggewie rechnet auf die verantwortungsbewusste Bürgergesellschaft.

© KWI/ Volker Wiciok

Soziologie: Probleme und Lösungen sind wie Salz und Suppe

Der Soziologe Claus Leggewie und sein Institut in Essen erforschen den Menschen in seiner Umwelt. Derzeit beschäftigt sie der Klimawandel - oder, wie sie es nennen, die "Klimakultur".

„Ich bin ein Alt-68er. Wir gewinnen nie, aber wir geben nicht auf.“ Wer mit Claus Leggewie spricht, hat keineswegs das Gefühl, einem Verlierer gegenüberzusitzen. Im Gegenteil, der Professor für Politikwissenschaft, seit 2007 Direktor des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen (KWI), ist ein schneller und engagierter Spieler. Probleme sind für ihn nichts besorgniserregendes, sondern „das Salz in der Suppe“. Das behände, kreative Selbstverständnis – entwerfen, auswischen, neu entwerfen – spiegelt sich auch im Büro des Direktors. Die Rückwand hinter dem Schreibtisch ist eine einzige große Schiefertafel, auf der mit Kreide Pfeildiagramme und Begriffe angeschrieben sind wie Mobilität, Stadt, Energie. Unten auf der Tafel sind erstaunlicherweise auch eine Schnecke und eine Kirche zu sehen, das sind die Werke seiner kleinen Tochter.

Claus Leggewie war immer schnell im Aufspüren und Debattieren gesellschaftlich brennender Themen, sei es Multikulti zum Beginn der 1990er Jahre, sei es die Globalisierung Anfang 2000, seien es Rechtspopulismus oder Euro-Islam. Jetzt ist Klimawandel sein wichtigstes Thema. Im vorletzten Jahr hat Leggewie zusammen mit seinem Kollegen Harald Welzer ein Buch mit dem Titel „Das Ende der Welt, wie wir sie kannten“ herausgebracht. Das Besondere daran ist, dass die Autoren die Erderwärmung nicht bloß als ein umwelttechnisches- oder naturwissenschaftliches Thema auffassen, sondern als ein dezidiert kulturelles. Der Klimawandel werde extreme gesellschaftliche Auswirkungen haben, und er sollte – das ist die Botschaft – nicht nur als Katastrophe wahrgenommen werden, sondern als Herausforderung und Chance für einen radikalen Lebensstilwandel in der westlichen Welt. Akteur des Wandels müsse eine neu politisierte Bürgergesellschaft sein, die sich freiwillig von einem ökonomistischen, verschwenderischen, mobilitätsfixierten Lebensstil lossage, der sowieso nicht glücklich mache.

„Natürlich kann man den Kampf gegen die Klimaerwärmung nicht gewinnen“, sagt Leggewie, der sowohl im wissenschaftlichen Beirat von Attac wie in dem der Bundesregierung zu globalen Umweltveränderungen sitzt. „Aber dieser Kampf ist unser neues ’68.“ Er hat sogar Aufkleber mit dem Schriftzug „Apo 2.0“ herstellen lassen, die gingen weg wie warme Semmeln.

Im KWI tragen alle Forschungsschwerpunkte den Appendix „Kultur“ im Titel: „Erinnerungskultur“, „Verantwortungskultur“, „Interkultur“ und eben „Klimakultur“. Mit Kulturwissenschaften oder Cultural Studies im herkömmlichen Sinn hat das Essener Institut jedoch wenig gemein. Während die Cultural Studies oft darauf abzielen, Wissensgegenstände als kulturell konstruierte zu verstehen und gerne auch Alltagsphänomene untersuchen, die bislang für wenig wissenschaftlich relevant erachtet wurden, bleibt das KWI auf dem Boden traditioneller soziologischer und empirischer Forschung. „Die Kulturwissenschaften haben sich durch ihren radikalen Konstruktivismus selbst dekonstruiert“, sagt Leggewie. „Es ist eben nicht alles nur ein Konstrukt, der Meeresspiegel steigt wirklich, das ist ein Fakt.“ Kulturell daran ist allerdings, dass der Klimawandel in Bangladesch anders wahrgenommen wird und andere Auswirkungen hat als in Europa – und genau das thematisiert Forschung im Bereich Klimakultur. Angesichts der aktuellen Ereignisse in Japan wird auf fast unheimliche Weise klar, wie eng Umweltkatastrophen auch mit ihrer kulturellen Wahrnehmung zusammenhängen.

Im Ruhrgebiet ist vieles als Verbund organisiert, der Nahverkehr sowieso und auch die Hochschulen. Der Status des KWI ist der eines Forschungskollegs der Universitäten Bochum, Dortmund und Duisburg-Essen, die sich zu einer „Universitätsallianz der Metropole Ruhr“ zusammengeschlossen haben. Gegründet wurde das Institut im Jahr 1989 auf Initiative von Johannes Rau, damals Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen. 2002 stand es fast vor dem Aus, wurde aber vom Wissenschaftsrat positiv evaluiert und konnte seitdem weiter ausbauen.

Der dreistöckige Backsteinbau, in dem das KWI seit 1997 siedelt, liegt direkt auf der „Kulturmeile“, die Essen im vergangenen Jahr anlässlich der Kulturhauptstadt-Aktivitäten durch die Straßen legte. Idyllisch grün ist nur die Rückfront des KWI, die Vorderseite grenzt an die viel befahrene Bismarckstraße, und wer hier beim Institut klingelt, blickt zunächst in ein kalt glänzendes Kameraauge. Das Gebäude wirkt auch innen eher kühl, sachlich und vor allem ruhig. Dabei arbeiten hier, inklusive der angestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, rund 60 Menschen in ihren Büros. In einem Seitenflügel sind acht Gästewohnungen untergebracht. Zum 20-jährigen Bestehen hat das KWI die Bibliothek und den Konferenzsaal umgebaut, eine große, rund geschwungene Glasfront gibt den Blick frei auf die glatte Fassade des Museums Folkwang gleich nebenan. Wer genug hat von Vorträgen, könnte zu Monets Seerosen flüchten, die dort im Original zu bewundern sind.

Die Aufgabe des KWI als eines „Institute for Advanced Study“ ist es, eigene Forschung zu betreiben und Forschungsprojekte anzustoßen. Ein großer Teil davon ist durch Drittmittel finanziert. Den Zusammenhang der vier Arbeitsschwerpunkte erklärt Claus Leggewie als Koordinatenkreuz. „Interkultur“ ist die vertikale Linie, auf die sich die anderen Forschungsfelder jeweils beziehen. „Interkultur heißt für uns nicht einfach, dass Leute einwandern, sondern dass Gesellschaft per se interkulturell ist, das heißt durch verschiedene Gruppen geprägt. Interkultur ist gesellschaftliche Normalität.“ Alle Schwerpunkte, ob Verantwortungs-, Klima- oder Erinnerungskultur beziehen diesen Aspekt mit ein. Im Schwerpunkt „Interkultur“ selbst untersuchen Wissenschaftler beispielsweise die Zusammenarbeit in einer indisch-deutschen Flugbegleitercrew, ein anderes Projekt befasst sich mit interkultureller Verständigung in Schulen des Ruhrgebiets.

Je nach laufenden Forschungsprojekten sind mehr oder weniger Fellows am KWI anzutreffen. Derzeit sind rund 20 Doktoranden und 20 weitere Wissenschaftler in Projekten beschäftigt, unter anderem auch Navid Kermani mit dem Thema „Orientalistik als Kulturwissenschaft“. Über ein „Scholar in Residence“-Programm lädt das KWI gemeinsam mit dem Goethe-Institut regelmäßig Gastwissenschaftler ein, die als binationale „Tandems“ jeweils sechs Wochen hier und dann sechs Wochen im Ausland arbeiten.

Stolz kann man am Institut auch auf einen sehr dicken Fisch an der Angel sein, denn gerade wurde mit Beteiligung des KWI ein durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördertes Käte-Hamburger-Kolleg „Politische Kulturen der Weltgesellschaft“ eingeworben. Das wird noch einmal etliche neue Fellows ans Institut bringen.

Und dann wären da noch die öffentlichen Veranstaltungen wie Vorträge, literarische Salons oder etwa die Konferenz „Öffentlichkeit, Medien und Politik – Intellektuelle Debatten und Wissenschaft im Zeitalter digitaler Kommunikation“, die gerade stattfand. Auf dem Podium sitzen zwölf Experten – mit elf Männern und einer Frau nicht gerade gut quotiert – bei einer „Delphi-Runde“ und diskutieren den Einfluss des Web 2.0 auf das wissenschaftliche Arbeiten. Das Delphi-Verfahren – nach dem berühmten Orakel benannt – ist eigentlich keine übliche Konferenzform, sondern ein groß angelegtes, mehrstufiges Prozedere, mit dem Experten Zukunftsprognosen entwickeln. Netzaktivitäten, also ein wissenschaftlicher Blog oder eine gute Homepage, werden irgendwann ebenso als akademische Leistung anerkannt werden müssen wie die Monografie heute, prognostiziert die Runde. Forschung werde sich noch mehr öffnen müssen, sie werde publikumswirksamer stattfinden und solle auch offener für die Mitarbeit von Amateuren werden. Im Rahmen der Konferenz wird von der Methode des „crowd sourcing“ berichtet. Dabei ist die Bevölkerung aufgerufen, sich per Internet an der Datenerhebung zu beteiligen, wie etwa bei dem Londoner Erinnerungsprojekt „Strandlines Digital Community“, oder beim Projekt „Galaxy Zoo“, an dem Tausende von Hobbyastronomen mitwirkten.

Der Elfenbeinturm Wissenschaft, so klingt es hier aus der Perspektive einer jungen digitalen Elite, gerät ins Wanken, und das sei gut so. Wird die Wissenschaft durch digitale Techniken besser, wird sie demokratischer, und wie viel globale Öffentlichkeit tut ihr gut? Claus Leggewie, der noch zu einer Generation gehört, die keinen Kopierer kannte – „man muss sich das einmal vorstellen“ – gibt zu, dass er manchmal das ganze Internetzeug komplett wieder abstellen möchte. Zumal er massenweise E-Mails von fremden Eiferern erhält, die ihn wegen seiner Klimakulturprognosen heftig beschimpfen. Aber andererseits ist genau das sein Salz in der Suppe. Leggewie ist am richtigen Platz, und abschalten würde er nie.

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