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Angst vorm Anfangen. Nicht jede Aufgabe sofort zielgerichtet umzusetzen, sondern die Aufmerksamkeit herumschweifen zu lassen, kann kreativ wirken und gilt bei manchen Studierenden als cool. Wer sich aber gar nicht mehr herantraut, braucht Hilfe.

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Prokrastination bei Studierenden: Die Qualen der Aufschieberitis

Warum manche Studierende Arbeiten ewig vertagen, obwohl sie darunter leiden – und wie sie sich helfen können. Eine Umfrage unter Berliner Studierenden und Professoren.

Das Schreiben an der Hausarbeit wird vertagt, für die Klausur wird erst kurz vorher gelernt – viele Studierende schieben manchmal wichtige Arbeiten auf. Für einige wird das Aufschieben zum quälenden Problem. Trotz Begabung und guten Willens schaffen sie es nicht, die Aufgaben, die sie sich vornehmen, zu bewältigen. Hausarbeiten bleiben liegen, Fristen werden nicht eingehalten. „Prokrastination“ nennt sich das Phänomen, das viele Studierende hemmt und das oft starke Selbstzweifel oder sogar Depressionen auslöst. Um den Betroffenen zu helfen, eröffnete im Oktober an der FU die erste „Prokrastinations-Praxis“ Berlins. Auch die anderen Hochschulen bieten Hilfe an. Was verursacht Prokrastination und wie kann man sie verlernen? Welche Erfahrungen haben Studierende und Professoren mit der „Aufschieberitis“? Wir haben uns an den Unis umgehört.

Anonymus, 31, studiert Geschichte und Politik auf Lehramt im 4. Master-Semester an der FU Berlin und will seinen Namen hier nicht nennen

Prokrastination läuft bei mir so: Ich nehme mir frei, um eine Hausarbeit zu schreiben, sage alles ab – und dann schreibe ich stundenlang keinen einzigen Satz. Nicht weil ich es nicht könnte, sondern weil ich eine Blockade aufbaue, die ich selbst nicht verstehe. Statt zu arbeiten, lenke ich mich ab, mit Youtube oder mit Essen. Am Ende des Tages fühlt man sich nutzlos, weil man weder etwas Sinnvolles geschafft hat noch eine gute Zeit hatte. Man nimmt sich vor, zum Ausgleich am nächsten Tag neun Stunden zu arbeiten, schafft das aber natürlich ebenso wenig. So geht das tagelang, und die Prokrastination gräbt sich immer tiefer als Gewohnheit ein.

Dieses Verhalten hat neben anderen wichtigen Gründen mein Studium besonders zu Anfang in die Länge gezogen. Damals prokrastinierte ich viel stärker als heute und hatte vor dem Schlafengehen regelmäßig das Gefühl, komplett versagt zu haben. Diese Gefühle bedingten die nächste Prokrastination. Man muss sich bewusst machen, dass Prokrastination zwar ein ernstes Problem ist – aber dass es nicht bedeutet, nicht intelligent oder gut genug zu sein. Mit der Zeit hat mir das geholfen, besser damit umzugehen. Ich habe herausgefunden, wie das Lernen besser klappt: Indem ich Zerstreuung vermeide und „einfach“ anfange. Wenn ich zwischen einer Klausur und einer Hausarbeit wählen kann, wähle ich zudem nun immer die Klausur, der klareren Frist wegen. Und wenn ich trotz alledem prokrastiniere, lese ich nun Zeitung, statt wie früher fernzusehen – so bilde ich mich immerhin weiter. Die Fähigkeit, unter Stress und auf den letzten Drücker dann doch Dinge zu erledigen, hat mir bereits genutzt. Allgemein bin ich glücklich, dass man sich – bis zu einem gewissen Grad – ändern kann.

Laura Heinrich: Lernorte wechseln, fürs Fach brennen

Laura Heinrich, 25, studiert im 5. Semester Veterinärmedizin auf Staatsexamen an der Szent-István-Universität in Budapest und lernt momentan in Berliner Uni-Bibliotheken für Prüfungen

Um gut auf die Klausuren in unserem Studiengang vorbereitet zu sein, sollte man drei bis vier Wochen vorher anfangen, für sie zu lernen. Oft schiebe ich das Lernen aber tagelang vor mir her und sitze dann erst zwei Wochen vorher am Schreibtisch. Vor der Prüfung werde ich dann furchtbar nervös, weil ich mich nicht gut vorbereitet fühle. Zusätzlich habe ich Schuldgefühle, weil ich diese Situation selbst zu verantworten habe. Ich glaube, ich schiebe immer dann Dinge auf, wenn mir der Lernstoff sehr schwer erscheint. Dann ist die Hemmschwelle größer, anzufangen.

Laura Heinrich.
Laura Heinrich.

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Umgekehrt darf man aber auch den Stoff nicht unterschätzen – dann plant man zu wenig Zeit ein. Um nicht zu prokrastinieren hilft es mir, konkrete Lerntage im Kalender einzutragen, früh aufzustehen und Lernorte ab und zu mal zu wechseln. Motivation und Interesse am Thema sind aber meiner Meinung nach die wichtigsten Waffen gegen das Aufschieben. Wenn man wie ich für das eigene Fach brennt, bleibt man zumindest gerne am Schreibtisch sitzen, wenn man erst einmal angefangen hat. Man merkt dann, dass Lernen nicht das Horrorszenario ist, als das es einem beim Prokrastinieren scheint. Das muss man sich fürs nächste Mal merken, sonst setzt sich die Lernangst fest. Hilfreich wäre es auch, über die studentische Kultur nachzudenken: Mäßige Prokrastination gilt oft als „cool“, das spornt Studierende eventuell sogar dazu an. Wenn das Aufschieben aber zu stark wird, wird man in die Ecke des Defizitären gedrängt – das lähmt die Betroffenen sicher noch mehr. Ein nüchternerer Umgang mit diesem Problem würde dagegen allen helfen.

Jan Slaby: Gute und schlechter Formen der Prokrastination

Jan Slaby, 38, Juniorprofessor am Institut für Philosophie an der FU Berlin

Es gibt wohl gute und schlechte Formen der Prokrastination. Schlecht ist, wenn sich immer wieder zwanghaft Ablenkungen einschleichen: Besuche auf Facebook, auf News- oder Sportseiten, während eigentlich die Hausarbeit geschrieben werden soll. Das kann überhandnehmen, besonders, seit Inhalte nur einen Klick entfernt sind. Weniger negativ ist es, statt der zu lesenden Fachliteratur auch andere Quellen zu studieren und dabei bisweilen in entfernte Gefilde zu driften – etwa Klassiker des Fachs zu lesen, wenn eigentlich wissenschaftliche Fachartikel ausgewertet werden sollen. Hier scheint es mir manchmal, als sei eine Form von Prokrastination eine hilfreiche Kompensation im seit Bologna eng getakteten Studium – so als ob sich der noch nicht ganz quadratische Geist junger Menschen seiner Normierung durch Stundenpläne und Creditpoints widersetzt. Ich vermute, dieser manchmal unwiderstehliche Drang zur Ablenkung und Abzweigung zeigt, dass an der Uni mehr Raum für das Verfolgen eigener Wege gegeben werden sollte.

Jan Slaby.
Jan Slaby.

© privat

Deshalb versuche ich, nicht übermäßig streng zu sein, was das Einhalten von Fristen angeht. Anders sieht es natürlich aus, wenn die Ablenkung überhandnimmt und die Person gar nicht mehr zum sinnvollen Arbeiten kommt. Das Problem sollte man dann unbedingt ernst nehmen und sich Hilfe suchen! Wenn mir selbst solche Fälle auffallen, suche ich das Gespräch, biete Hilfe an, versuche zu motivieren. Leider erreicht man so nicht alle Betroffenen, dazu ist die Uni zu groß. Wichtig ist daher der Kontakt zu Kommilitoninnen und Kommilitonen: Es hilft zu sehen, dass andere auch Probleme haben – und Lese- oder Lerngruppen können sehr motivierend wirken.

Stephan Schmid: Die vielen Verpflichtungen schnüren Studierende ein

Stephan G. Schmid, 47, Professor für Klassische Archäologie an der Humboldt-Universität

Fast alle kennen die Tendenz, Aufgaben, die als unangenehm oder zu anspruchsvoll empfunden werden, ein wenig hinauszuzögern. Ein bisschen Prokrastination steckt deshalb wahrscheinlich in jedem von uns. Deswegen ist es aber auch schwierig, im universitären Alltag eine klare Linie zwischen „normalem“ und von der Norm abweichenden Verhalten zu ziehen. Bessere und stringentere Organisation, klare Vorgaben und Anforderungen können aber meiner Meinung nach dabei helfen. Diese Ziele waren einige der Argumente für das Einführen des dreistufigen Studiums im sogenannten Bologna-Modell.

Stephan Schmid.
Stephan Schmid.

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Leider hat die Studienreform in dieser Hinsicht nicht wirklich etwas bewirkt: Durch eine unsinnige Multiplikation von sogenannten prüfungsrelevanten Leistungen sind Studierende heute in ein viel zu enges Korsett von Verpflichtungen eingeschnürt. Ich habe den Eindruck, dass es immer mehr Studierende gibt, die Abgabetermine deswegen nicht einhalten können oder die Vorbereitung eines Referats erst kurz vor dem Vortragstermin beginnen.

Lena Reinken: Realistische Lernpläne erstellen

Lena Reinken, 33, Psychologische Psychotherapeuthin und Mitarbeiterin der Prokrastinations-Praxis der FU Berlin

Arbeit aufzuschieben ist weit verbreitet – und Studierende haben oft viel Freiheit dazu. Viele kommen mit der eigenen Prokrastination klar, andere haben durch sie jedoch einen großen Leidensdruck. Sie geraten in einen Teufelskreis aus geschwächtem Selbstwertgefühl, Arbeitsvermeidung und Schuldgefühlen, haben manchmal Depressionen. Für sie ist es wichtig, zu erkennen, welche Ursachen ihr Verhalten hat: Oft sind sie durch den eigenen Perfektionismus und gleichzeitige Versagensängste gehemmt. Deswegen fangen sie zum Beispiel erst drei Tage vor der Frist mit der Hausarbeit an. Sie haben dann vor sich selbst und anderen eine Erklärung dafür, wenn sie nicht gut abschneiden. Auch unzureichende Planung und Unlustvermeidung können Prokrastination verstärken, zusammen mit individuellen Faktoren.

Lena Reinken.
Lena Reinken.

© privat

Unser Projekt bietet dafür zwei unterschiedliche Workshops an: Die Studierenden können in psychoanalytischen Trainings herausfinden, welche tieferen Konflikte ihre Prokrastination bestimmen. In verhaltensorientierten Trainings können sie Strategien dagegen lernen, zum Beispiel realistische Lernpläne zu gestalten. Eine wirksame Methode ist auch diese: Den Studierenden wird für die Zeit des Trainings untersagt, länger als zum Beispiel eine halbe Stunde pro Tag für ihr Ziel zu arbeiten. Viele arbeiten dann plötzlich effektiv, bitten um mehr Zeit und kommen langsam weg von der Lernvermeidung. Auch Professoren können helfen, indem sie zum Beispiel Fristen für die einzelnen Schritte einer Hausarbeit setzen. Durch die Erfahrung in der Prokrastinations-Praxis werden wir aber immer mehr über das Phänomen lernen und bessere Strategien entwickeln können.

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