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Studierende arbeiten in einer Bibliothek an Computern.

© picture alliance / dpa

Prokrastination in der Wissenschaft: Schreib-Skrupel über Bord werfen

Schreibblockaden mit Mut zum Unperfekten oder ein paar „Ashram“-Tagen überwinden: Schreibcoaches geben Tipps, wie die wissenschaftliche Arbeit vorankommt.

Auch im Leben des Schriftstellers Gustave Flaubert gab es diese anstrengenden Tage: Nur ein einziger Satz fand am Ende seine Gnade, unzählige Blätter landeten im Papierkorb. Wer seinen Roman „Madame Bovary“ liebt, wird zu der Ansicht neigen, dass die Mühe sich gelohnt hat. Dass Perfektionismus auch beim Abfassen einer ganz gewöhnlichen Seminararbeit hilfreich ist, sollte man daraus aber nicht schließen. Vielmehr gilt es, lähmende Skrupel hintanzustellen: „Was würdest du hinschreiben, wenn es nicht perfekt sein müsste?“, lautet dabei eine Frage, die den Schreibfluss anregen kann. Sie findet sich im gerade erschienenen „Schreibimpulsfächer“ (utb aktuell, 12,99 Euro). Neben dem Rechner platziert kann er zu Rate gezogen werden, wenn mal wieder alles ins Stocken gerät.

Der Inhalt des Fächers folgt den Phasen des Schreibprozesses – sich einstimmen, loslegen, durchsteigen, dranbleiben und abrunden. Unter „loslegen“ steht etwa: „Notiere deine fünf Tipps zum ‚Niemals-fertig-werden’!“ Vielen, die gerade an einer Bachelor- oder Master-Arbeit, an ihrer Dissertation sitzen, fällt dazu sicher einiges ein, vom E-Mails-Checken über dringende Anrufe und Einkäufe bis zu ständigen Änderungen und Ergänzungen des niemals vollkommen erscheinenden Textes. Der scheinbar kontraproduktiven Aufforderung folgt eine konstruktive Frage, welchem der Tipps man sich „heute widersetzen“ wolle.

Den Text mit anderen Augen lesen - und loslassen

Die Autorinnen des Schreibimpulsfächers, Katja Günther und Ingrid Scherübl, kennen das Dilemma aus eigener Erfahrung als Geisteswissenschaftlerinnen – und aus den Workshops, die sie Schreibwilligen anbieten. Scherübl war wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste (UdK), Günther ist Gestalttherapeutin und Coach.

Ein Fallbeispiel aus ihrer Praxis: Eine Studentin steht kurz vor dem Abschluss in Germanistik. Das Material ist vollständig, die Arbeit zu großen Teilen geschrieben, die Verfasserin längst in der Phase des „Abrundens“ angekommen. Eigentlich gefällt ihr das Vorhandene. Doch dann wird ihr klar, dass ihr weiteres Berufsleben davon abhängen könnte, wie die Abschlussarbeit bewertet wird. Ihre Unbefangenheit ist in Gefahr. Was tun? Wer das Geschriebene nochmals kritisch prüfen möchte, sollte es „mit anderen Augen lesen“, ermuntern die Coaches. In einer anderen Schriftart, auf Papier statt auf dem Rechner. Beim Loslassen helfe es dann, sich das eigene Projekt als Gegenstand vorzustellen: Als Objekt, das man auf Abstand halten und von dem man sich zum passenden Zeitpunkt auch trennen kann.

Regelmäßiger Tagesablauf und begrenzter Internet-Zugang helfen

Dramatisch wird es für viele, die wissenschaftliche Arbeiten verfassen, aber schon weit vorher. Um ein Projekt schnell auf den Weg zu bringen, raten die beiden Schreib-Coaches zu einem „Intensivtag“. An dessen Ende stehe zumindest die Rohfassung eines Kapitels oder einer kürzeren Seminararbeit, versprechen sie.

Doch wenn es mit größeren Vorhaben nicht vorangeht, wünscht man sich einfach an einen anderen Ort, der nur dem Schreiben geweiht ist, möglichst mit sozialer Kontrolle. Scherübl und Günther richten in Zusammenarbeit mit der UdK eine Art Kloster auf Zeit ein, einen mehrtägigen „Schreibashram“. Das klingt etwas esoterisch, bietet aber vor allem konzentrationsförderliche Strukturen: einen regelmäßigen Tagesablauf mit Bewegungsprogramm, mehrstündige Schreibphasen, ein schweigend eingenommenes Mittagessen, begrenzten Zugang zum Internet, freiwillige Teilnahme an Workshops am Nachmittag und feste Zu-Bett-geh-Zeiten. Bislang hätten sich alle Teilnehmer nach der Ashram-Phase über deutlich angewachsene Textdateien freuen können, versichern die Coaches. Derzeit wird das Angebot wissenschaftlich begleitet: Die Psychologin Katrin Klingsieck, Juniorprofessorin an der Universität Paderborn und ausgewiesene Expertin beim Thema „Prokrastination“, dem krankhaften Aufschieben, untersucht, ob die Erfolge nachhaltig sind.

Im Arbeitsfeld Universität schwinden die Räume für Konzentration

Davon sind nicht nur Studienanfänger betroffen, Schreibblockaden ziehen sich häufig durch die ganze Unizeit. So scheitern nach einer Studie des HIS-Instituts für Hochschulforschung 17 Prozent der Dissertationen. Doch auch gestandene Wissenschaftler brauchen Hilfe. Gremienarbeit, Drittmitteleinwerbung und E-Mail-Kommunikation machten es vielen schwer, ihre Forschungsergebnisse aufzuschreiben, sagt Scherübl. „Paradoxerweise schwinden die Räume für Konzentration und intellektuelle Kontemplation im Arbeitsfeld Universität.“

Wenn das Ziel dann mit professioneller Hilfe gleichwohl erreicht ist, sei es mit Ratgebern wie dem Schreibimpulsfächer oder mit einem Coaching, ist es Zeit, die ultimative Karte zu ziehen: „Belohne dich jetzt.“

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