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Pruefung

© Ullstein

Prüfungsangst: Blackout im Bachelor

Der Prüfungsdruck im Studium hat erheblich zugenommen, die Prüfungsangst auch. Doch die Unipsychologen sind überlaufen.

Den Moment, als alles anfing, hat Christian Fischer (Name geändert) noch klar vor Augen: „Nicht einmal meinen Namen konnte ich auf den Antwortbogen schreiben, so sehr hat meine Hand gezittert“, sagt der Berliner Mathematikstudent. Während einer Klausur im ersten Semester erlebt der heute 23-Jährige „den totalen Blackout“: „Alle anderen schrieben und schrieben, ich habe nur auf mein Blatt gestarrt.“ Nach einer halben Stunde rennt Fischer aus dem Hörsaal und fährt „wie in Trance“ nach Hause. Wenige Tage später, als er bei einer mündlichen Prüfung antreten soll, schafft er es nur bis vor die Tür des Dozenten. Fischer hat seit dem Morgen Magenkrämpfe, er sieht die anderen Studenten, die warten und gemeinsam den Lernstoff durchgehen. „Nur weg hier“, habe er da gedacht. Zu den restlichen Prüfungen, die der Studienanfänger damals hätte absolvieren müssen, erscheint er erst gar nicht.

Seit zwei Jahren kämpft Christian Fischer mit seiner Prüfungsangst. Sogar ein Urlaubssemester hat der Bachelorstudent zwischendurch genommen, um „eine Unipause zu machen und zu entscheiden, ob ein Studium wirklich das Richtige ist“. Dass die Vielzahl „studienbegleitender Prüfungen“, die den Bachelor von den traditionellen Fächern unterscheidet, gerade Anfängern Probleme bereitet, beobachten auch die psychologischen Berater an den Unis. Insgesamt habe sich die Nachfrage bei den Beratungsstellen seit Einführung der neuen Studiengänge „deutlich erhöht“, sagt Mechthild Rolfes, Psychologin an der TU. Zugleich habe sich der Schwerpunkt ihrer Arbeit verlagert: „Immer mehr Studenten kommen mit Arbeitsstörungen und Prüfungsproblemen.“ Häufiger als früher suchen sie schon in den ersten Semestern Hilfe. Die Plätze in den Therapiegruppen reichten längst nicht mehr für alle Bewerber, sagt Rolfes.

Studentenvertreter machen vor allem „ausufernde Modulteilprüfungen“ für solche Probleme verantwortlich: Im Bachelor belegen die Studenten meist drei oder vier Module pro Semester. Eigentlich sei vorgesehen, dass in jedem Modul eine Prüfung absolviert werden muss, sagt Tobias Rossmann von der Studentenvertretung der Humboldt-Universität. „Auch Hochschulen in anderen Länder machen das so.“ Mittlerweile habe sich jedoch an deutschen Unis in vielen Bachelorfächern durchgesetzt, in jedem Modul mehrere Kontrollen für einzelne Wissensgebiete anzusetzen. Er habe, sagt Rossmann, schon mit Studenten gesprochen, die „am Ende des Semesters zehn Prüfungen hatten – manchmal mehrere an einem Tag“.

Ebenso berichten die Fachbereiche an den Unis vom stark gestiegenen Prüfungsaufkommen. Die Zahl der Kontrollen habe sich mit dem Bachelor „verdreifacht bis verfünffacht“, schätzt Gabriele Motz, Leiterin des Studienbüros der HU-Naturwissenschaften. Im Vergleich mit den früheren Diplomfächern sei „das Prüfungsaufkommen explodiert“, heißt es auch aus dem Institut für Sozialwissenschaften.

Für manche Studententypen, beobachtet die TU-Psychologin Mechthild Rolfes, ist dieser verschulte Bachelor sogar besser geeignet als die traditionellen Fächer. Magisterstudenten, die in die Sprechstunden kommen, wünschten sich oft mehr Orientierung und Klarheit über den eigenen Leistungsstand. Hauptproblem im Bachelor sei nun, dass alle Prüfungsleistungen von Beginn an in die Endnote einfließen. „Schon Erstsemester machen sich richtig Druck, weil sie Angst haben, später keinen Masterplatz zu bekommen“, sagt Rolfes.

Auch bei Fischer kreisten die Gedanken vor Prüfungen immer darum, wie viel auf dem Spiel steht. Außerdem habe er „andere Studenten, selbst Freunde, als Konkurrenten betrachtet“ und sich ständig verglichen. Jetzt, in seinem dritten Semester, hat er das Gefühl, „einen riesigen Berg an Prüfungen“ vor sich herzuschieben. Dennoch will er weiter studieren – allerdings mit professioneller Hilfe.

Die psychologischen Beratungen an den Hochschulen und beim Berliner Studentenwerk bieten neben Einzel- oder Gruppentherapien auch anonyme Chats an. Ziel sei zunächst, den Betroffenen einen „geschützten Raum“ zu bieten, in dem sie über ihre Ängste sprechen und dem noch immer herrschenden „Unibluff“ entfliehen können, sagt Birgit Rominger, Beraterin beim Studentenwerk. Denn das Umfeld reagiere oft mit Unverständnis oder Verharmlosungen: „Das geht vorbei! Du schaffst das schon!“ Dabei leidet einer Umfrage der Konstanzer Arbeitsgruppe Hochschulforschung zufolge etwa ein Drittel der Studierenden an massiven Prüfungsängsten.

Rominger empfiehlt, sich durch „aktives Lernen“ vorzubereiten, also nicht nur Texte zu lesen, sondern selbst Prüfungsfragen zu formulieren und eine Probeklausur zu schreiben. Gerade der schwierige „Angststoff“ sollte in solchen Übungen enthalten sein. Klausurfragen oder Prüfungsprotokolle aus vergangenen Semestern können meist bei Dozenten oder der Fachschaft eingesehen werden. Hilfreich sei auch, den Stoff laut zu wiederholen oder eine mündliche Prüfung zu simulieren, sagt Rominger. In den Gruppentherapien übernehmen Studenten dabei nicht nur die Rolle des Prüflings, sondern auch die des Professors. „So merken sie, wie schwierig es auch die andere Seite hat – und dass der Prüfer kein Monster ist.“

Später sehen sich die Teilnehmer das Rollenspiel gemeinsam als Video an. Ein typischer Fehler, auf den man dabei stößt, sei, dass der Student keinen Kontakt zum Prüfer aufnimmt: „Viele Prüflinge starren nach unten und kommen deshalb gar nicht in der Situation an.“ Die Prüfer könnten dann kaum noch helfen.

Diesen Tipp gibt auch Michael Hartmer vom Deutschen Hochschulverband (DHV), der Interessenvertretung der Professoren, den Studenten. „Die Hochschullehrer sind genauso im Prüfungsdauerstress“, klagt Hartmer. Von Bachelorprogrammen mit 42 Prüfungen in sechs Semestern hätten ihm Kollegen berichtet. Ein Professor, der etliche Prüfungen hintereinander abnehmen muss, „langweilt sich und kommt in einen Automatismus, der für den Prüfling schädlich ist“, sagt der DHV-Geschäftsführer. Zum Beispiel achten Dozenten dann nur noch darauf, ob ein bestimmter Schlüsselbegriff fällt. Auf den einzelnen Studenten könne man nicht mehr eingehen.

Hartmer erwartet zudem, dass in den nächsten Jahren Studenten oder Professoren gegen den „Prüfungsmarathon“ im Bachelor klagen, da dieser womöglich die verfassungsrechtlich verankerte Freiheit der Wissenschaft einschränkt. Im Bachelor konzentriere sich die Lehre nur noch auf die Erfordernisse der nächsten Prüfung. „Einzelne Teilgebiete fallen völlig aus dem Curriculum“, sagt Hartmer. Unter den Professoren, die doch eigentlich die Bachelorprogramme mitentwickelt haben, herrsche jedenfalls das Gefühl vor: „Wir sind die Prüfungsautomaten in einer durchorganisierten Fabrikation.“

In „Prüfungsautomaten“ kann Psychologin Birgit Rominger die Studenten durch ihre Beratung nicht verwandeln: „Vollständig beseitigen lässt sich die Angst meist nicht.“ Dennoch könnten fast alle nach den Sitzungen ihre Furcht zumindest unter Kontrolle halten. Außerdem wirke sich Anspannung auch positiv aus, sagt Rominger: „Erst eine gewisse Grundnervosität setzt Energie frei.“

Tina Rohowski

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