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Alleingelassen. Kinder von Menschen mit psychischen Störungen wissen oft nicht, an wen sie sich wenden können.

© ullstein bild

Psychisch kranke Eltern: Stimmen, die nur die Mutter hört

Die Kinder psychisch gestörter Eltern leiden häufig mit – und haben ein erhöhtes Risiko, selbst krank zu werden.

Große Pause. Eine Frau torkelt in Schlangenlinien auf die Schule zu. „Ich kenne sie“, schreibt eine Zwölfjährige über die Frau. Ihr lapidarer Text heißt: „Meine Geschichte.“ Sie gewann damit in ihrer Altersklasse den „Theo“, einen Preis des deutschen Buchhandels für schreibende Jugend. Die Geschichte geht ungefähr so weiter: Die Frau macht die Tür zur Schule auf. „Das ist ja Mama“, schreit die kleine Schwester. „Nein, das ist nicht unsere Mutter“, ruft die Große so laut sie kann, damit es auch alle hören.

Wie viele Kinder und Jugendliche in Deutschland haben wohl Väter oder Mütter mit psychischen Störungen? Mit Suchtkrankheiten zum Beispiel wie in dieser Geschichte, mit Depressionen, Angststörungen oder gar mit einer Schizophrenie? Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Schätzungen schwanken zwischen 1,6 und drei Millionen; 200.000 bis 500.000 dieser Kinder leben mit dem kranken Elternteil zusammen.

Wie auch die kleine Anne mit ihrer alleinerziehenden Mutter, die manchmal Stimmen hört. Sie hält sie für real, weil sie ihre Krankheit, offenbar eine Schizophrenie, sogar sich selbst gegenüber verleugnet und es ablehnt, sich untersuchen und behandeln zu lassen. Das Kind hat die Mutter lange belogen und ihr zuliebe behauptet, es höre die Stimmen auch. Endlich fielen einer Lehrerin ihre Verhaltensstörungen auf. Sie suchte Hilfe für Anne, und nun, als Jugendliche, lebt sie in einer betreuten Wohngemeinschaft – und lebt auf.

In einer Studie der Kinder- und Jugendärztin Elisabeth Horstkotte heißt es, „dass Kinder psychisch kranker Eltern eine Hochrisikogruppe im Hinblick auf die Entwicklung einer eigenen psychischen Störung sind“. („Vergessene Kinder“ – Kinder psychisch kranker Eltern – Aufgewachsen ohne Netz und doppelten Boden (PDF-Fassung unter: www.gesundheitsamt.bremen.de).

Die Autorin stützt sich auf Forschungen an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Marburg. Die Professoren Fritz Mattejat und Helmut Remschmidt durchforsteten die Fachliteratur und kamen zu folgendem Ergebnis: Kinder psychisch Kranker haben ein doppeltes Risiko, selbst seelische Störungen oder Krankheiten zu entwickeln. Zum einen können sie erblich belastet sein. Hat der Vater oder die Mutter eine Schizophrenie, ist das Risiko der Kinder, selbst schizophren zu werden, verzehnfacht: 1:10 statt 1:100 wie in der Gesamtbevölkerung. Ist ein Elternteil schwer depressiv, vervierfacht sich das Risiko der Kinder, an irgendeiner psychischen Störung schon im Kindes- oder Jugendalter zu leiden.

Bei einer genetischen Belastung können die ungünstigen familiären Lebensumstände – das zweite Risiko – die Kinder besonders beeinträchtigen. Hier wären Prävention und Unterstützung dringend notwendig. Die Kinder- und Jugendpsychiater haben festgestellt, dass die gesamte Entwicklung dieser Kinder gestört sein kann, vom Säuglings- bis zum Jugendalter.

Sie sind oft desorientiert, verwirrt und voller Angst, weil sie nicht verstehen, was mit Vater oder Mutter geschieht. Sie fürchten, durch eigenes Fehlverhalten schuld daran zu sein, dass Mama so traurig oder Papa „durcheinander“ ist. Sie halten sich an die Tabuisierung des Familienproblems, von dem niemand erfahren soll, wissen auch nicht, an wen sie sich wenden könnten, fühlen sich sehr alleingelassen.

Elisabeth Horstkotte zitiert in ihrem Bericht eine Feststellung des Bundesverbandes der Angehörigen psychisch Kranker:

„Das Gesundheitswesen vergisst sie, weil es für den psychisch kranken Elternteil zuständig ist; die Jugendhilfe kennt diese Kinder oftmals nicht.“ Das „Gesundheitswesen“ ist hier die Psychiatrie für Erwachsene und die strikt davon getrennte Kinder- und Jugendpsychiatrie; die „Jugendhilfe“ ist die der Jugendämter und der freien Träger.

Wie Kindern in Berlin geholfen wird

Diese Hilfsinstitutionen erschienen den Duisburger Experten einer Projektgruppe zur Untersuchung der Lage der vergessenen Kinder als „in sich geschlossene Systeme“, und ein „systematisches vernetztes Vorgehen schien nicht erkennbar“. Daraufhin wurde erst eine Kooperationsvereinbarung und dann ein Netz gebildet, das die Kinder durch verschiedene Informations- und Hilfsangebote auffängt, soweit sie überhaupt bekannt sind. Die Dunkelziffer ist hoch.

Das Duisburger „Netzwerk für Kinder psychisch kranker Eltern“ dient mit seinem Handlungsleitfaden der „Netzwerkinitiative Bremen“ als Vorbild. Auch dort wird auf der Grundlage eines Kooperationsvertrags den Kindern Hilfe angeboten.

Und was passiert in Berlin? Insider berichten von ein paar Ansätzen. In einigen Bezirken – Reinickendorf, Neukölln, Pankow – arbeiten Akteure zusammen. Es gibt auch Patenschaften für Kinder alleinerziehender psychisch kranker Mütter und andere private Initiativen.

Aber wohin können sich Erzieher, Lehrer, Nachbarn wenden, denen so ein verstörtes, dringend hilfsbedürftiges Kind auffällt? Einige lnformationsquellen findet man im „Wegweiser für Selbsthilfe und Seelische Gesundheit“ des „Landesverbandes Angehörige psychisch Kranker Berlin“ (Telefon 8639 5701, E-Mail: info@apk-berlin.de). Zur Information über Kinder psychisch Kranker ist dort angegeben: www.netz-und-boden.de.

Eine spezialisierte zentrale Anlaufstelle in Berlin gibt es nicht. Bleiben die Jugendämter und der rund um die Uhr erreichbare Berliner Notdienst Kinderschutz. Hotline: 610066; aufgefächert in Kindernotdienst 610061, Jugendnotdienst 610062 und Mädchennotdienst 610063.

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