zum Hauptinhalt
Blick nach innen. Wenn die Landschaft monoton vorbeigleitet, lässt die Aufmerksamkeit nach und das Gehirn fängt an, sich mit sich selbst zu beschäftigen. So entstehen die ungewöhnlichsten Ideen.

© Dorothea Schmid/laif

Psychologie: Wir Tagträumer

Es passiert immer wieder, auf Arbeit, im Auto, am Telefon: Der Geist geht auf Wanderschaft. Diese Tagträume sind keineswegs so unproduktiv, wie man lange dachte.

Es ist ein Sommertag im Jahr 1990, die 24-jährige Joanne – auch „Jo“ genannt – sitzt im Zug von Manchester nach London und ist gelangweilt. Die Fahrt, die sie in- und auswendig kennt, wird länger dauern als sonst, der Zug hat Verspätung. Jo starrt gedankenverloren aus dem Fenster, auf vorbeiziehende Landschaften, ein paar Kühe – als plötzlich eine Gestalt vor ihrem geistigen Auge erscheint, sehr konkret, detailliert wie ein Bild: ein elfjähriger Junge mit zerzaustem, schwarzem Haar, grünen Augen und einer runden Brille, die kaputt ist.

Nun überschlagen sich die Bilder und Einfälle, sie stürmen geradezu auf die junge Frau ein. Aufgeregt durchwühlt sie ihre Tasche, kann aber keinen Stift finden, um die sprudelnden Ideen niederzuschreiben: Der Junge ist ein Waisenkind und ein Zauberer, der (noch) nicht weiß, welche magischen Kräfte in ihm schlummern. Weitere Figuren gesellen sich zu ihm, und Jo sieht ein Schloss vor sich, das sie in Wirklichkeit nie besichtigt hat.

Als sie endlich in London ankommt, hat die mittellose Frau, die davon träumt, Schriftstellerin zu werden, grob den Stoff für sieben fantastische Kinderbücher im Kopf. Der Name ihres Helden fehlt noch, sie wird ihn später „Harry Potter“ nennen.

Jahre nach dieser schicksalhaften Zugfahrt erzählt Joanne K. Rowling in einem Interview, sie hätte keine Ahnung, woher ihr damals der Einfall zu Harry Potter gekommen sei. „Ich denke, die Idee schwebte durch den Zug, auf der Suche nach jemand, und da mein Geist gerade einigermaßen unbesetzt war, entschied sie sich eben, sich dort zu entfalten.“

Wegdriften, nicht ganz bei der Sache sein – das wird in unserer Gesellschaft nicht gerade als Kardinaltugend eingestuft. Man stelle sich die Szene im Büro vor! Da kommt der Chef und fragt: „Und, womit beschäftigen Sie sich gerade?“ – „Ich? Ach, mit nichts eigentlich, ich lasse meinen Geist zurzeit bewusst ein bisschen unbesetzt, Sie wissen schon, für all die Ideen, die da draußen umherschwirren, auf der Suche nach einem kuscheligen Zuhause …“

Bekanntlich kann man sich keine steile Karriere herbeiträumen. Das gibt es nur durch harte Arbeit und Konzentration. So ähnlich sah man das lange Zeit auch in der Wissenschaft. Hirnforscher, die ihre Probanden in einen Kernspintomografen schieben, behelligen diese stets mit einer bestimmten Aufgabe, um zu ergründen, welche Hirnregionen dabei aktiviert werden. Doch was tut das Gehirn, sobald die Aufgabe erledigt ist? Das kümmerte keinen, es schien uninteressant.

Das Gehirn macht nicht etwa ein belangloses Nickerchen. Es gibt sogar eine weit verzweigte Gruppe von Hirnregionen, die erst dann zum Leben erwacht, sobald wir uns nach der Arbeit zurücklehnen und unsere grauen Zellen offline gehen können. Man bezeichnet diese neuronale Offline-Koalition auch als „Default Mode Network“, grob übersetzt: als Standardmodus- oder Leerlauf-Netzwerk. Wir können uns an der schwierigsten Mathe-Aufgabe die Zähne ausbeißen – die Hirnfelder des Leerlauf-Netzwerks dämmern derweil vor sich hin. Sie schalten sich erst dann ein, wenn wir abschalten, genauer: wenn wir uns von den Problemen der Außenwelt abwenden.

Es ist, als wäre unsere Aufmerksamkeit, um J. K. Rowlings Metapher aufzugreifen, stets auf der Suche nach etwas, woran sie sich festbeißen könnte. Sobald etwas los ist, womöglich etwas Neues, Wichtiges, Aufregendes wie zum ersten Mal Autofahren, ist unsere volle Aufmerksamkeit gefragt. Für Tagträume ist jetzt kein Platz, Abdriften wäre störend, unter Umständen lebensgefährlich. Das Leerlauf-Netzwerk ruht.

Oft genug ist aber herzlich wenig los und die Realität enttäuscht uns mit schnöder Routine: die gleiche Autofahrt zum 1000sten Mal, eine altbekannte Zugfahrt, bei der man die monotone Landschaft passiv vorbeiziehen lässt. Wenn unsere Aufmerksamkeit da draußen offensichtlich nicht gefordert ist, schlägt die Stunde des Leerlauf-Netzwerks. Das Gehirn kehrt sich von der öden Welt ab und wendet sich seiner eigenen, inneren Welt zu. Erinnerungen werden wach (bei Rowling Erinnerungen an die eigene, nicht ganz glückliche Kindheit), ein Gedanke führt zum nächsten. Das Hirn fängt an, sich mit sich selbst zu beschäftigen, jenen dunklen Kontinent im Kopf zu erforschen, in dessen Windungen und Winkeln alles, auch Zauberei, möglich ist.

Und diese Einkehr ist keinesfalls nur „unproduktiv“. Das Tagträumen scheint für gewisse geistige Leistungen außerordentlich wichtig zu sein, vor allem, wenn es um eher kreative und persönlich-emotionale Fragen des Lebens geht.

Studien haben beispielsweise ergeben, dass das Leerlauf-Netzwerk bei Menschen, die von sich behaupten, häufig ihren Tagträumen nachzuhängen, in Ruhephasen besonders stark aktiviert wird. Und wer oft tagträumt, der wiederum erweist sich in Kreativitätstests als überdurchschnittlich originell, wie die Psychologen Benjamin Baird und Jonathan Schooler von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara kürzlich herausfanden. Die Forscher konnten auch experimentell nachweisen, dass Situationen, die ein mentales Wegdriften begünstigen, der Kreativität auf die Sprünge helfen. In einem Versuch forderten sie die Teilnehmer in einer Aufwärmphase dazu auf, binnen zwei Minuten möglichst viele Verwendungen für einen Ziegelstein aufzulisten – etwa zum Errichten einer Mauer, als Briefbeschwerer oder als Türstopper.

Danach teilten sie die Leute in vier Gruppen auf: Manche wurden für die nächsten zwölf Minuten mit einer anspruchsvollen Zählaufgabe beschäftigt. Andere mussten einen hochgradig langweiligen Reaktionszeittest absolvieren, von dem man weiß, dass er einen zuverlässig dazu bringt, vorzeitig abzuschalten. Die dritte Gruppe durfte sich einfach entspannen, die vierte bekam gar keine Pause, sondern ging gleich zur nächsten Testphase über. Diese bestand für alle darin, die kleine Kreativitätsübung zu wiederholen, die Frage nach dem Ziegelstein also noch einmal zu beantworten. Zusätzlich gab es einige neue Kreativitätstests.

Das ungewöhnliche Resultat des Versuchs beschäftigt die Forscher bis heute. Was die neuen Kreativitätstests betrifft, so zeigte sich kein Unterschied zwischen den Gruppen. Ganz anders dagegen fiel das Ergebnis bei der wiederholten Frage nach dem Ziegelstein aus. Jene Gruppe, die man mithilfe der stupiden Reaktionszeit-Aufgabe nachgerade zum Tagträumen „genötigt“ hatte, erfuhr im zweiten Durchgang einen kräftigen Kreativitätsschub: Im Gegensatz zu allen anderen, deren Leistung sich nicht im Geringsten verbesserte, blühten sie regelrecht auf und fanden weitaus originellere Verwendungsmöglichkeiten für Backsteine als beim ersten Mal. Es war, als hätte das mentale Wegdriften ihre Inspiration auf Trab gebracht.

Warum zeigte sich diese beflügelnde Wirkung nicht auch bei jenen, die während der Unterbrechung einfach nichts getan hatten? „Die Frage gehört zu den meistdiskutierten bei uns im Labor“, sagt der Studienleiter Benjamin Baird. „Es könnte sein, dass die Leute in der Ruhephase einschlafen oder auf bewusst-vorsätzliche Art und Weise anfangen, über persönliche Probleme zu grübeln.“ Eine einfache Aufgabe dagegen würde einerseits sicherstellen, dass man wach bleibe, andererseits ein angestrengt-gezieltes Nachdenken unterbinden und die Fantasie stattdessen auf lockere Wanderschaft schicken, in diverse Richtungen.

Das Rätsel ist noch nicht gelöst. Klar scheint indes, dass unkonzentriertes Wandern der Gedanken tatsächlich die Chancen erhöht, von der Muse geküsst zu werden. Dafür spricht auch der Befund, dass Menschen mit Konzentrationsschwierigkeiten oft über eine besonders kreative Ader verfügen.

So warten Leute, die unter ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) leiden, in Kreativitätstests häufig mit ausgesprochen originellen Antworten auf. Statt etwa bei der Ziegelstein-Frage bloß konventionelle Ideen von sich zu geben, wie den Bau einer Mauer, kommen sie auch darauf, dass man den Ziegelstein zermalmen könnte, um ihn als eine Form von Lippenstift zu nutzen.

Im wahren Leben legen ADHS-Leute – vom musikalischen Bereich über wissenschaftliche Entdeckungen und Erfindungen bis hin zum Kochen – ebenfalls nachweisbar mehr Einfallsreichtum an den Tag als die Normalos unter uns, berichten die amerikanischen Psychologinnen Holly White und Priti Shah. Der springende Punkt dabei ist: Gerade wer unter ADHS leidet, hat massive Schwierigkeiten damit, „bei der Sache“ zu bleiben. Der Geist der Zappeligen neigt zum chronischen Wegdriften.

Und das beflügelt, wie es scheint, nicht nur die Kreativität. Je genauer Forscher das Phänomen des Tagträumens untersuchen, umso deutlicher wird, dass beispielsweise auch komplexe Probleme des Lebens vom Blick nach innen profitieren können. Bei moralischen oder existenziellen Fragen, oder in Situationen, die Empathie erfordern, bringt jener fokussierte Denkmodus, mit dem wir an IQ-Aufgaben herangehen, nicht weiter.

Das zeigt eine Studie der amerikanischen Psychologin Mary Helen Immordino-Yang. Sie und ihre Kollegen konfrontierten junge Leute mit wahren Geschichten, die eigens dafür ausgesucht worden waren, Mitgefühl zu erregen. In einem kurzen Video erzählt eine bettelarme chinesische Mutter, wie sie eines Winternachmittags eine Geldmünze auf der Straße fand. Damit konnte sie etwas Kuchen für ihren Sohn kaufen, der schon den ganzen Tag in der Schule verbracht hatte, ohne einen Bissen zu essen. Der Junge war ausgezehrt vor Hunger, und doch – erzählt die Mutter – bot er ihr das letzte Stück Kuchen an. Die Mutter lehnte ab mit der Begründung, sie hätte bereits gegessen – was gelogen war.

Darum gebeten, ihre Gefühle zu beschreiben, reagierten die Testpersonen, wie zu erwarten war, recht unterschiedlich. Allerdings machten die Forscher eine bemerkenswerte Entdeckung, die sie exemplarisch an der Reaktion einer Testperson namens John beschreiben. Nachdem John die Geschichte der chinesischen Mutter gehört hatte, fing er an, sie ausführlich zu rekapitulieren, in eigenen Worten noch einmal zu beschreiben. Plötzlich machte er eine lange Pause. „Er schien sich für einen Moment von der Interaktion mit dem Studienleiter zurückzuziehen und sah mit leerem Blick nach unten, auf seinen Schoß“, berichten die Wissenschaftler. Nach diesem Innehalten kehrte er zurück und sagte: „Es veranlasst mich, über meine eigenen Eltern nachzudenken, die mich immer mit so vielem unterstützt haben und denen ich dafür vielleicht nicht genügend danke.“

Was war während der Pause in Johns Kopf geschehen? Wie es scheint, hatte er die Aufmerksamkeit von der Außenwelt abgezogen, um sie nach innen zu richten. Damit hatte er nichts anderes getan, als seinem Offline-Netzwerk die Gelegenheit zu geben, die Arbeit aufzunehmen. In diesem Fall bestand sie vermutlich darin, die Geschichte der chinesischen Mutter mit seinem eigenen Leben zu verknüpfen. Weitere Analysen sowie Kernspin-Versuche ergaben: Je mehr Pausen eine Testperson während ihrer Reaktion auf die Geschichten einlegte, desto komplexer fielen ihre Reflektionen aus und desto aktiver war ihr Leerlauf-Netzwerk.

Ist Tagträumen nur etwas für Kinder und Künstler? Was, wenn John in einer Umgebung aufgewachsen wäre, die wenig Wert auf den Blick nach innen legt – hätte der junge Mann seine Fähigkeit zur Reflektion dann überhaupt erst voll entwickelt? Was entgeht einer zunehmend rastlosen Gesellschaft, die Tagträume eher belächelt?

Auch wenn diese Fragen vorläufig unbeantwortet bleiben, und selbst wenn nicht jedes mentale Abschweifen in eine Buchsensation mündet, so zeichnet sich doch immer klarer ab: Der Tagtraum ist mehr als nutzloses Gedankenkino.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false