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Supreme Court

© AFP

Rechtssoziologie: „Juristische Missionare“

Kann man Verfassungen einfach in ein anderes Land verpflanzen? Rechtssoziologen aus aller Welt diskutieren.

Von Caroline Fetscher

Eine gesamte Wohngegend kann ihren Charme verlieren, wenn bestimmte Zeitgenossen zugegen sind. Wenn es etwa Nachbarn gibt, die allnächtlich lärmende Saufgelage abhalten oder ihren Müll auf das Trottoir werfen, wenn Jugendgangs Wände mit Graffiti verzieren, offen mit Drogen dealen, Minderheiten verunglimpfen oder betrunken grölend durch die Straßen ziehen.

In Großbritannien, erzählt Leslie Blake, Kriminologe an der „School of Law“ der Universität Surrey, erfand der Gesetzgeber als Gegenmittel die „Anti Social Behaviour Order“, kurz ASBO. Wer eine ASBO erhält, muss sich aus bestimmten Wohnquartieren oder Vierteln fernhalten, manchmal wird ein ganzer Ort für ihn Sperrbezirk.

Leslie Blake erholt sich im grünen Innenhof der Humboldt-Universität von einem Konferenztag mit Dutzenden von Vorträgen. Er ist einer von 2500 Teilnehmern an der weltgrößten Zusammenkunft der Rechtssoziologen, die am Sonntag in Berlin zu Ende ging. Wie Recht und Wirklichkeit, Gesetzespapier und Gesellschaft korrespondieren, harmonieren und kollidieren können, wie, wo und warum unterschiedliche Rechtssysteme und Rechtskulturen überhaupt entstehen und Gesetze ausgelegt werden, das besah sich dieser Kongress von allen Seiten.

„Im Fall der ASBO“, erklärt Blake mit britisch distanziertem Lächeln, „haben wir ein wunderbares Beispiel dafür, wie ein Gesetz nicht das bewirkte, was es sollte“. Manche Nachbarn versuchten, gegen geschäftliche Rivalen oder Nebenbuhler in Liebesaffären eine ASBO zu erwirken. Vor allem aber: „Jugendliche brüsteten sich mit einer ASBO, als sei sie ein Sportabzeichen.“ Den Missbrauchsquotienten konnten die Gesetzgeber nicht vorausberechnen, Rechtsintention einerseits und Rechtsbewusstsein der Bevölkerung andererseits erwiesen sich als zwei Paar Schuhe – und bieten eine Mikrostudie für das stets in Entwicklung befindliche Verhältnis zwischen Rechtssystem und Gesellschaft.

Zweitausend Vorträge und sechshundert Arbeitsgruppen, Wissenschaftler nahezu aller Fachbereiche – Soziologen, Juristen, Politologen, Kulturwissenschaftler, Ethnologen, Gender-Forscher, Psychologen, Wirtschaftswissenschaftler sowie Polizisten, Teilnehmer aus mehr als siebzig Ländern – die schiere Masse von „Law and Society in the 21st Century“ beeindruckte vor allem deutsche Teilnehmer. Amerikanisches Kongressformat, erklärt ein Jurist, bedeutet mehr als Konferieren. „Die Vielzahl der Vorträge entsteht, weil die meisten Unis Reisekosten nur dem erstatten, der ein paper präsentiert. Solche Mammutereignisse sind außerdem nicht nur formeller wissenschaftlicher Austausch, sondern zugleich informell auch Partner- und Job-Börse.“

Auf ein Großthema, das sich über alles wölbte, verzichtete der Kongress und bot stattdessen ein Kaleidoskop, das dennoch einen größten gemeinsamen Nenner fand: die Globalisierung der Weltgesellschaft und des Rechts. Themen rangierten vom vergleichenden Verfassungsrecht über die Frage des juristischen Umgangs mit Migration, Religion, Biopiraterie, Umwelt und Genethik bis zu Rechten von Frauen, Minderheiten und Menschen. Wenn es im Substrom eine zentrale Frage gab, dann diese: Wie können Menschenrechte und „Good Governance“ zum globalen Gut werden, das nicht überwiegend dem „Westen“ oder dem Norden der Erdkugel vorbehalten bleibt?

Zu den brennendsten Problemen der Globalisierung gehören die Migranten und deren oft unklarer, unsicherer Rechtsstatus, mit der Gefahr, per se kriminalisiert zu werden. Von einer „Crimmigration Crisis“ spricht dabei die New Yorker Rechtswissenschaftlerin Teresa Miller. Diese drohe ganze Bevölkerungsteile zu entrechteten Staatsbürgern zweiter Klasse – zu „illegal aliens“ – zu degradieren und damit die bestehende Rechtsordnung an den Rändern aufzulösen.

In Ägypten hat Hussein A. Agrama von der Chicago University als Feldforscher einen Wandel im juristischen System erlebt, der für ihn die Frage unbeantwortet lässt, ob wir es dort mit einem säkularen oder einem religiösen Staat zu tun haben. Ein „Zwitterwesen“ fand er vor. Agrama untersuchte Formen der Rechtspraxis im Familienrecht und stellte zunächst mit einiger Bestürzung fest, dass Fälle, die das Privatleben von Familien betrafen, hinter verschlossener Tür und mit dem Rat Geistlicher verhandelt wurden. Dies sei im Zuge der weltweiten Ausbreitung des Islamismus mehr und mehr Praxis geworden, ergab Agramas Forschung, während es in den Siebziger Jahren viel liberaler zuging. Ein Mehr an Optionen der Rechtsgestaltung, also ein Mehr an säkularem Einfluss, habe paradoxerweise zu einer Zunahme restriktiver Praktiken bei der Behandlung solcher Fälle geführt, war sein Fazit.

Am ehesten gefeit gegen Unsicherheiten der Globalisierung, so führte ein Stargast der Konferenz, Brun-Otto Bryde, Richter am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe, aus, schien bisher das mit der nationalen Identität eines Staates eng verbundene Verfassungsrecht einzelner Staaten. Auch hier gerät jedoch vieles in Bewegung, Verfassungen können zu regelrechten Exportprudukten werden, was Bryde einerseits mit Skepsis beobachtet, andererseits „wie jeder internationalistisch denkende Jurist“ begrüßt. Doch warnt er vor dem Enthusiasmus, mit dem „juristische Missionare“ erfolgsreich erprobte Verfassungsmodelle von einem Staat in einen anderen verpflanzen wollen, etwa beim heutigen Nation-Building oder bei den im Aufbau begriffenen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Derlei Exportversuche gab es schon einmal, erinnerte Bryde das Publikum, und zwar zu Zeiten der Entkolonialisierung. „Die ehemaligen Kolonialmächte führten überall auf der Welt Verfassungsmodelle ein, die denen der Fünften Republik oder dem Westminster-Modell ähnlich sahen, wenn sie ihnen nicht sogar aufs Haar glichen.“ Das Erbe dieses als „Modernisierung“ bezeichneten Rechtstransfers wirke bis heute fort, mahnte Bryde und musste nicht die von Bürgerkriegen und anderen Konflikten geplagten Gesellschaften etwa Zentralafrikas vor Augen führen, deren Demokratien bis heute teilweise einer Farce ähneln.

Man sei damals naiv gewesen, indem man den Reformeifer der neuen Eliten überschätzt hatte, und auf der anderen Seite auch ethnozentrisch, indem das eigene System als modellhaft und global exporttauglich dargestellt wurde.

„Alle Juristen können von fächerübergreifenden Perspektiven auf so einem Kongress nur lernen“, freute sich Susann Bräcklein, Anwältin und Mitarbeiterin am Verfassungsgericht, die sich für ihre Promotion mit dem Vergleich der Handhabung von Untersuchungsausschüssen in den USA und Deutschland befasste. Juristen, sagen sie und andere auf dem Kongress, öffnen sich gegenüber anderen Disziplinen allmählich und mit wachsender Neugier. Dass ihr Gebiet, gerade im formalistisch-legalistischen, an Normen und Rechtsdogmen orientierten Deutschland, den Blick über den Tellerrand und in die Gesellschaft nötig hat, darin waren sich die Juristen einig, die zum Kongress gepilgert waren.

Einige von ihnen arbeiten inzwischen mit an einem neuen Webportal, das sich explizit mit Recht und Gesellschaft befasst, ins Leben gerufen unter anderem von Christian Boulanger, Politologe an der Humboldt-Universität, der an der Juristischen Fakultät am Lehrstuhl „Öffentliches Recht und Geschlechterstudien“ forscht. Die Website www.rechtswirklichkeit.de werde immer häufiger aufgerufen, sagte Boulanger.

Hochzufrieden von der interdisziplinären Olympiade zeigt sich der Präsident der Law and Society Association, Malcolm M. Feeley, der an Kaliforniens Berkeley University das Verhältnis zwischen Gerichtsbarkeit und Sozialpolitik erforscht. „Vor fünfzehn Jahren hatte jedes Land sein eigenes Podium“, erinnerte er sich. „Heute sind alle Podien international, und der Kongress ist drei- bis viermal so groß.“ Nur eine Klage muss der Optimist einreichen: „In der deutschen Wissenschaft wird die Rechtssoziologie vernachlässigt, Lehrstühle werden nicht neu besetzt.“ Das, wünscht Feeley, solle sich ändern.

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