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Zwischen Himmel und Erde. Blick auf die Niederrheinbrücke der Autobahn A4 in der Nähe von Düsseldorf.

© dapd

Religion und Wissenschaft: Ein Riss durch die Welt

Religiöses und wissenschaftliches Denken klaffen immer weiter auseinander. Aber wieweit dürfen beide Weltbilder in einem sich aufgeklärt nennenden Menschen aufeinandertreffen, ohne intellektuell unredlich zu sein?

Bekennenden Christen gemeinsam ist im Prinzip der heilsgewisse Glaube an einen barmherzigen Gott, an die Erlösungsbedürftigkeit des Menschen, an die Sündenvergebung durch den Opfertod von Jesus, an die eigene Wiederauferstehung nach dem Tod, an eine wie auch immer geartete Hölle als Ort ewiger Verdammnis. Wie viele Kirchenmitglieder aber sind wirklich noch bekennende Christen?

Das Spektrum christlicher Glaubenspraxis in Deutschland reicht vom Kreationismus, also einer wörtlichen Interpretation der Bibel, bis hin zum Atheismus in der Kirche. Eine Studie über den Glauben der Hessen ergab, dass Christen im engeren Sinne sogar innerhalb der Kirchen eine Minderheit darstellen.

Im Biologie-, Physik- oder Lebenskundeunterricht erhalten Schüler Einsichten, die vielfach religiösen Auffassungen widersprechen. Die Frage ist, wieweit dürfen religiöses und wissenschaftliches Weltbild in einem sich aufgeklärt nennenden Menschen auseinanderklaffen, ohne intellektuell unredlich zu sein?

Eine naturwissenschaftlich orientierte Philosophie nimmt an, dass die Welt materiell-energetischer Natur ist. Übernatürliche Wesenheiten sind aus naturalistischer Sicht weder erforderlich noch erkennbar. Von philosophischer und theologischer Bedeutung sind heute vor allem die Erkenntnisse der Kosmologie, Quantenphysik, Evolutionstheorie, Hirnforschung und Soziobiologie.

Kosmologisch beginnt unsere Welt mit einer logischen Unmöglichkeit, der Erschaffung aus dem Nichts. Schließlich sagt uns unsere Lebenserfahrung, dass aus Nichts nichts entstehen kann. Ein Blick in die bizarre Welt des Mikrokosmos erlaubt es, diesen Widerspruch aufzulösen. Dort wartet die Quantentheorie mit Phänomenen auf, die unserer Alltagslogik vollständig zuwider laufen.

Das Gesetz der Kausalität, überhaupt die Prinzipien unserer Alltagslogik gelten dort weitgehend nicht mehr. Unsere Alltagslogik gilt offenbar nur im Mesokosmos, also im Bereich, in dem wir körperlich agieren und in dem sich Anschauung, Sprache und Denken entwickelt haben.

Die Unvereinbarkeit bestimmter Erkenntnisse der Kosmologie und Mikrophysik mit unserer Alltagslogik lässt sich nur aufheben, wenn wir die uns vertraute, mit unserem Denken evolutionär entstandene und auf Basis der Kausalität arbeitende Logik als einen Spezialfall einer umfassenderen Logik auffassen. Ähnlich der Newton’schen Himmelsmechanik, die sich als Spezialfall der wesentlich umfassenderen Einstein’schen Relativitätstheorie erwies. Die Strukturen unserer derzeit als gültig angesehenen Logik entsprechen offenbar nicht vollständig den Strukturen der Wirklichkeit.

Ursprung des Universums.

Der Astrophysiker Stephen Hawking erläutert in seinem Buch „Der große Entwurf“ seine Vorstellungen vom Ursprung des Universums. Einen Schöpfer hält er für entbehrlich. Er leitet aus seinen Gleichungen ab, dass das Universum nicht erschaffen wurde, sondern aus dem Nichts entstand. In keinem seiner Gleichungssysteme tauche auch nur der Hauch einer Idee auf, unser Universum könnte das Ergebnis eines Schöpfungsaktes sein.

Äußert sich hier frevelhafter Übermut, gar menschliche Vermessenheit oder nur die kühle und zwangsläufige Logik kosmologischer Rechenmodelle? Wir müssen uns wohl damit abfinden, mit dem Alltagsverstand nicht begreifen zu können, welche Prinzipien jenseits des uns Sicht- und Verstehbaren unsere Existenz hervorgebracht haben. Es ist diese unüberwindlich erscheinende Grenze, die zu der theologischen Behauptung führt, es gäbe über die erkennbare Realität hinaus eine Transzendenz, zu der wir zwar keinen Zugang hätten, wohl aber geoffenbarte Informationen. Die Beweislast für eine solche Existenzbehauptung trägt aber der Behauptende.

Auch die Tatsache, dass das Leben auf dieser Erde und das Auftauchen des Menschen keinem planenden Designer, sondern der Fähigkeit der Materie zur Selbstorganisation zu verdanken sind, fällt unserem auf Ziel und Sinn orientierten Denken schwer zu glauben. Die Darwin’sche Botschaft lautet: In der Pflanzen- und Tierwelt existiert das, was sich aus dem Zusammenspiel von zufälliger Erbgutvariation und Einwirkung der Umwelt ergeben hat und fortpflanzen konnte, alles andere hat sich nicht durchgesetzt und ist folglich nicht vorhanden.

Das Existierende erscheint uns als gewollt, weil wir gewohnt sind, Zweckmäßiges und Angepasstes in den Kategorien von Ziel und Plan zu interpretieren. Aber selbst die komplexesten Organismen mit den raffiniertesten Regel- und Informationsverarbeitungssystemen sind nicht das Ergebnis planvoller Schöpfung, sie sind die in einem Milliarden Jahre währenden Prozess von zufälliger Erbänderung und natürlicher Auslese geformten Resultate.

Die christliche Auffassung von der lenkenden Schöpferhand hinter aller Entwicklung steht mit ihrem teleologischen (zielgerichteten) Naturverständnis im logischen Widerspruch zur Evolutionstheorie, die eben nicht zielorientiert argumentiert. Die Vorstellung von einem planvoll vorgehenden Schöpfer ist auch entbehrlich, weil sie keinen einzigen Evolutionsschritt verständlich macht, sie verlagert das Erklärungsproblem lediglich in Richtung eines in seiner Existenz unerklärten Schöpfers.

Hier stehen sich zwei konkurrierende Erklärungsansätze gegenüber: ein teleologischer, vom Ziel der Entwicklung her denkend, und ein kausaler, von den Ursachen her denkend. Der christliche Glaube erklärt die Welt und den Menschen intentional, ausgehend vom Willen Gottes. Die Naturwissenschaft denkt und erklärt kausal, ausgehend von den materiell-energetischen Gegebenheiten.

Geist und Bewusstsein als höchste Ausformung aller Existenz.

Die Gültigkeit der Evolutionstheorie wird aufgrund der erdrückenden Beweislast von den Wissenschaften, ja selbst von der katholischen und evangelischen Kirche im Grundsatz nicht mehr bestritten. Dennoch wird die Frage ihrer Bedeutung in Bezug auf das Selbstverständnis des Menschen keinesfalls einhellig beantwortet. Für die Kirche bleibt der Mensch das gottgewollte Ziel der Evolution und der Endpunkt, ja die Krönung dieser Entwicklung. Wenn ich aber von der Richtigkeit der Evolutionstheorie überzeugt bin, welchen Anlass sollte ich dann haben, einer etwa dreitausend Jahre alten biblischen Legende Glauben zu schenken, dass ich mein Dasein und meine Bedeutung in dieser Welt einem übernatürlichen Schöpfungsakt verdanke?

Dass schließlich die höchste Ausformung aller Existenz, nämlich Geist und Bewusstsein, ebenfalls nur eine Erscheinungsform des Materiellen sein sollen, das erscheint überhaupt nicht mehr begreifbar. Aber mit dem Aufkommen der modernen Naturwissenschaften gewann die Auffassung immer mehr Anhänger, dass das materielle Sein die eigentliche Wirklichkeit darstelle und Geist und Bewusstsein Funktionen der Materie seien.

Von den meisten Hirnforschern wird heute die Überzeugung vertreten, dass psychische und mit ihnen korrespondierende neuronale Prozesse nur verschiedene Erscheinungsformen ein und desselben Vorgangs sind, und Phänomene wie Denken, Fühlen oder Bewusstsein keinen eigenen Seinsstatus besitzen, sondern lediglich Funktionen des Gehirns sind, die ohne dessen Existenz nicht existieren.

Bleibt die religiöse Überzeugung, dass das Normensystem, wie es sich in den Zehn Geboten konkretisiert hat, seine Verankerung nur im Absoluten, im Göttlichen haben könne. Selbst Kant glaubte das. Wenn es keinen Gott gäbe, dann gäbe es keinen zwingenden Grund für sittliches Verhalten. Nur die Aussicht auf Belohnung oder Strafe im Jenseits hält uns an, uns moralisch zu verhalten. Die noch junge Soziobiologie kann jedoch anhand vieler Befunde zeigen, dass unser moralisches Verhalten genetische Wurzeln hat.

Kooperation und Mitgefühl, Selbstlosigkeit und Hilfsbereitschaft bilden die Keimzellen der Moral. Offenkundig haben tierische wie menschliche Gesellschaften besser überlebt, weil ihre Mitglieder zu dieser Form des Zusammenlebens bereit waren: Gemeinsame Nahrungsbeschaffung, Teilen in der Not, gemeinsame Abwehr von Feinden und Hilfe aufgrund von Mitleid.

Wer kooperiert erhöht die Chance, dass seine Gruppe und damit er selbst überlebt. Solche Verhaltensweisen stellten also einen Selektionsvorteil dar und sind vererbter Bestandteil unseres Verhaltens geworden. Moralisches, sprich sozial vorteilhaftes Verhalten, ist also keinesfalls nur Ergebnis von Erziehung, es durchlief eine stammesgeschichtliche Entwicklung und ist uns von Geburt an mitgegeben.

Das neue Menschenbild wird Abschied nehmen von der Vorstellung einer unsterblichen Seele und einem Geist, die ihren Ursprung in Gott haben und uns mit ihm verbinden. Schließlich zeigen höher entwickelte Tiere, dass auch sie schon ansatzweise über Denkvermögen und Bewusstsein verfügen.

Hier zeigt sich wiederum, dass die Kirche das Darwin’sche Konzept nur halbherzig akzeptiert hat, denn sie hält nach wie vor an eigenständigen, göttlich eingeflößten Wesenheiten wie Geist und Seele fest. Die biologischen und neurologischen Erkenntnisse engen jedoch den Spielraum für metaphysische Einflussgrößen, die den Menschen über seine biologische und soziale Natur hinausheben würden, immer mehr ein.

Die Wirklichkeit in Form der Wissenschaft muss irren.

Wenn das, was unsere Persönlichkeit ausmacht, unser Denken, unsere Gefühle, unsere Erfahrungen, unser Bewusstsein von uns und dieser Welt, auch ein das Diesseits transzendierender Glaube, gebunden sind an die neurologischen Strukturen unseres Gehirns, die mit unserem Tod zerfallen wie unser übriger Körper, dann wird es immer weniger plausibel, dass wir etwas von uns in ein Jenseits hinüber retten könnten.

Theologen und viele Gläubige akzeptieren heute meist die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und genießen als Früchte dieses Denkens die Annehmlichkeiten des modernen Lebens. Sie übernehmen aber für sich nicht die rationale und systematische Denkweise, die diese Ergebnisse erst hervorgebracht hat. Vor allem die aus den Erkenntnissen der Kosmologie und Evolutionstheorie sich ergebenden philosophisch-theologischen Konsequenzen werden nicht anerkannt. Es wiederholt sich, was Kepler und Galilei zu ihrer Zeit erleben mussten: Wenn Bibel und Wirklichkeit nicht übereinstimmen, dann muss sich die Wirklichkeit in Form der Wissenschaft irren, nicht ein tausende Jahre alter Schöpfungsmythos.

Die Überlegenheit einer naturalistischen Weltsicht zeigt sich in der weltweiten Gültigkeit. In jedem Land der Erde, unabhängig von jeweiliger Kultur oder Religion, gelten die gleiche Physik und die gleiche Biologie. Diese weltweite Gültigkeit kann man den zahllosen und grundverschiedenen Lehren vom rechten Weg zum Seelenheil nicht zusprechen.

Religionen predigen den Menschen, was sie denken sollen, die Wissenschaften, speziell die Naturwissenschaften zeigen den Menschen, wie sie denken sollen, um zu wirklichkeitsgerechten und menschengemäßen Einsichten zu gelangen.

Menschengemäß heißt auch anzuerkennen, dass es Fragen über die Welt und uns gibt, die wir nicht, vielleicht nie werden beantworten können. Das Bedürfnis nach Antworten ist zutiefst menschlich und hat eine spirituelle Dimension. Dem wissenschaftlich geprägten Verstand sollten sie aber nicht widersprechen.

Der Autor ist emeritierter Professor für Bildungsinformatik der Freien Universität Berlin. Er ist Verfasser des Buches „Warum ich kein Christ sein will“ (Teia Verlag).

Uwe Lehnert

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