zum Hauptinhalt
Spaß am Buch. Erwachsene können den Kindern den Zugang zur Schrift erleichtern, wenn sie beim Vorlesen ein paar Kniffe beachten.

© Kitty Kleist-Heinrich

Richtig vorlesen: Wie kleine Kinder Buchstaben erobern

Kindern vorzulesen ist immer gut. Jetzt zeigt eine Studie, wie es noch besser geht: Wer mit dem Finger "mitliest" und gelegentlich mit dem Kind über die Buchstaben spricht, legt schon früh Grundlagen zum Lesenlernen.

Kleinen Kindern tut es rundum gut, wenn Erwachsene ihnen etwas vorlesen, das haben wir alle im Gefühl. Und dass es sie optimal darauf vorbereitet, später selbst schnell und sicher lesen zu lernen, liegt nahe. Doch im Unterschied zu anderen Aspekten des komplexen Themas gibt es hierzu erstaunlich wenig exakte Forschung. Mit dem Projekt „Sit Together And Read“ (STAR) liefern Wissenschaftler von der Ohio State University nun genau dazu wichtige Mosaiksteine. Das Ergebnis, das Shayne Piasta und ihre Kollegen in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift „Child Development“ präsentieren: Vorschüler profitieren für ihre spätere Lesetechnik vor allem, wenn die Erwachsenen beim Vorlesen auch den Vorgang des Lesens thematisieren und den Text für kleine Übungen nutzen.

Für ihre Langzeitstudie teilten die Forscher 550 Vierjährige aus insgesamt 85 staatlich geförderten Vorschulklassen nach dem Zufallsprinzip in mehrere Gruppen: In einigen von ihnen, den STAR-Gruppen, begleiteten die Erzieher das Vorlesen durch ein Mitwandern ihrer Finger, wiesen auf einzelne Buchstaben und Wörter hin und sprachen mit den Kindern darüber. In anderen Gruppen lasen sie vor, ohne die Aufmerksamkeit der Kinder auf den Vorgang des Lesens selbst zu lenken. In der Hälfte der STAR-Gruppen und in den Kontrollgruppen stand viermal, in den anderen STAR-Gruppen nur zweimal in der Woche ein Vorlesestündchen auf dem Programm, alles für insgesamt 30 Wochen und anhand von 30 ausgewählten, bebilderten Büchern.

Die Kinder, die in diesen staatlichen Vorschulklassen zusammenkamen, hatten bei ihrer Aufnahme unterdurchschnittliche sprachliche Fähigkeiten. Alle Erzieher waren zuvor in einem Workshop geschult worden, in dem entweder das STAR-Konzept oder Informationen zur allgemeinen Bedeutung des Vorlesens auf dem Programm standen. Ein Jahr und nochmals zwei Jahre später besuchten die Wissenschaftler die Kinder in der Grundschule und ermittelten deren Fortschritte beim Lesenlernen mit verschiedenen standardisierten Tests.

Inzwischen hatten die Grundschüler, die in ihrer Vorschulzeit das gezielte Vorleseprogramm mitgemacht hatten, die größten Fortschritte gemacht: Sie taten sich leichter beim Buchstabieren und Zusammenziehen der Wörter, außerdem verstanden sie mehr von dem Entzifferten. Als besonders fit in der Kulturtechnik des Lesens erwiesen sich diejenigen Grundschüler, denen in der Vorschulzeit viermal in der Woche eine der gezielten STAR-Lesestunden gegönnt worden war. Erfreulicherweise waren bei ihnen auch keine Abstriche in anderen Bereichen zu verzeichnen, etwa beim Wortschatz und beim Textverständnis.

„Unsere Ergebnisse belegen definitiv, wie wichtig es ist, schon kleine Kinder während der Vorschulzeit zu ermutigen, sich mit Gedrucktem zu beschäftigen, um langfristig die Entwicklung des Lesens und Schreibens zu fördern“, sagt Didaktikprofessorin Shayne Piasta. Sie versteht ihre Studie vor allem als wissenschaftliches Fundament für staatliche Vorschulprogramme, mit denen in den USA Kinder aus bildungsfernen Familien gezielt gefördert werden.

Bisherige Studien hatten eher allgemein belegt, dass Kinder, denen von klein auf viel vorgelesen wurde, in der Schule mehr Erfolg haben und selbst lieber lesen als ihre Altersgenossen, die sich nur selten mit einem Buch auf den Schoß eines Erwachsenen setzen durften. Zuletzt hatte das in Deutschland die Untersuchung der Stiftung Lesen anhand einer Befragung von 400 Zehn- bis 19-Jährigen im Herbst des letzten Jahres eindrücklich zeigen können. Nach der Art, in der diese Vorlesezeit ablief, wurden die Heranwachsenden hier allerdings nicht befragt. Nun wurde erstmals in einer randomisierten Studie belegt, dass die Lesefertigkeiten bei Grundschülern besser sind, wenn sie in der Vorschule zwei Jahre zuvor beim Vorlesen gezielt auf Merkmale des Gedruckten hingewiesen wurden.

Grundsätzlich sei es ganz wichtig, dass Kinder früh mit der Schriftkultur in Berührung kommen, bestätigt auch die Vorleseforscherin Petra Wieler, die im Arbeitsbereich Grundschulpädagogik der FU für das Fach Deutsch zuständig ist. Das besondere Lernpotenzial des Vorlesens sieht sie jedoch vor allem in der Vielfalt angesprochener Fähigkeiten. So werde das Kind zur Vergegenwärtigung einer Geschichte jenseits des hier und jetzt herausgefordert und gewinne zugleich einen ersten Einblick in die komplizierte Beziehung von Realität und Fiktion. Die Entfaltung dieses Potenzials sei wiederum wesentlich von der Gestaltung der Vorlesesituation abhängig – an der sich das Kind aktiv beteiligen muss, damit die Sache gelingt: „Vorlesen muss auf jeden Fall spielerisch geschehen und vergnüglich sein, wenn man künftige Leser gewinnen möchte.“

Erwachsene sollten aus der aktuellen Forschung also keinesfalls den Schluss ziehen, jedes Vorlesestündchen müsse zum Lesenlernen „ausgeschlachtet“ werden. Wenn sie kein Bilderbuch und keine Geschichtensammlung mehr aufschlagen, ohne vor den Augen der Kleinen mit dem Finger die Zeilen entlangzufahren und jede Gelegenheit zum ABC-Unterricht zu nutzen, könnten die Kleinen schnell den Spaß verlieren. Nicht zuletzt haben diese zukünftigen Leser ein Recht darauf, sich in die Illustrationen zu vertiefen, die im Bilderbuch oft sogar die Hauptrolle spielen. „Die Bilder im Buch sind das Rezeptionsterrain der kleinen Kinder“, sagt FU-Professorin Wieler. Wenn es gut läuft, machen sie Lust auf mehr – auf die Eroberung der Buchstaben und Wörter, aber auch auf die Eroberung neuer Welten.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false