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© - Foto: ddp

Schule: Unterrichten, ohne umzukippen

Im ersten Semester vor der Klasse, simulierter Elternabend: Wie Universitäten Lehrerstudenten auf den Schulalltag vorbereiten

Tina umklammert das Pult, Olga verschanzt sich hinter dem Tisch, Katharina schreit, Carolin wirkt verdammt souverän – bis zum Stoßseufzer: „Wir bringen jetzt die Stunde hinter uns.“ Nur die Stunde rumkriegen, irgendwie. Es hat nicht viel gebraucht, um die Studentinnen mit Berufsziel Lehrer in den Schulalltag zu katapultieren. Seminarleiter Timo Nolle hat in einem Unterrichtsraum der Universität Kassel einen Schreibtisch und ein paar Stühle aufgestellt, auf denen Mitstudenten sitzen.

Nach je zwei Minuten erlöst Nolle die Studentinnen von ihrer Aufgabe, den Anfang einer Vertretungsstunde zu simulieren. Zwei Minuten, die mancher erstmals klar machen, was für ein Job da auf sie zukommt. Carolin sagt: „Du stehst da vorne und kriegst alles ab.“ Einer Kommilitonin schwant, dass Schüler den Lehrer als Person ins Visier nehmen und nicht nur auf Fachwissen achten: „Stell Dir vor, ich hätte Stöckelschuhe angehabt.“

Timo Nolle kennt solche Reaktionen. „Die Nervosität ist echt“, sagt er, auch wenn statt pubertierender Jugendlicher Mitstudenten auf den Stühlen sitzen. Seit Oktober schleust er alle 650 Lehramts-Erstsemester an der Uni Kassel durch das zweitägige Seminar „Psychosoziale Basiskompetenzen für den Lehrerberuf“. Nach einer Pilotphase ist das Angebot erstmals Pflicht. In Zwölfergruppen mit je zwei Betreuern arbeiten sich die Studenten durch die Übungen. Sie bauen Papiertürme, um zu sehen, wie sie in Gruppen reagieren. Sie erinnern sich an pädagogische Schlüsselerlebnisse und simulieren Elternabende sowie schwierige Schulsituationen. Es geht um Handlungs- und Sozialkompetenz. 30 000 Euro investiert die Uni in diesen Praxisschock.

Nolle und seine Kollegen haben nach dem Seminar schon gehört: „Wenn das alles zum Lehrersein gehört, dann will ich das nicht.“ Solche Selbsterkenntnis kurz nach Studienstart ist durchaus Ziel des Pflichtseminars. Das Angebot reagiert auf Studien, nach denen sich im Lehrerberuf viele tummeln, die besser nie im Klassenzimmer gelandet wären. Der Potsdamer Psychologieprofessor Uwe Schaarschmidt fand bei einer Befragung von 20 000 Lehrern heraus, dass viele der Illusion anhingen, Lehrer sei ein leichter und bequemer Beruf. Es drängten darum auch Ängstliche ohne großen Ehrgeiz in den Job. Schon unter Studenten und Referendaren zählte Schaarschmidt jeden vierten zum „resignativen Typ“. Der Frankfurter Bildungsforscher Udo Rauin kam zum ernüchternden Ergebnis, dass im Lehrerberuf vor allem jene ins Burn-out geraten, die von Anfang an überfordert und wenig engagiert waren.

In der Pilotphase des Seminars, als Freiwillige mitmachten, brach eine Studentin vor der simulierten Vertretungsstunde zusammen. Sie war im neunten Semester. Dass sie solchen Situationen nicht gewachsen sein würde, hatte bis dahin niemand gemerkt. Ein Drama für die angehende Lehrerin – und ihre potenziellen Schüler. Andere Berufe stehen Lehramtsstudenten kaum offen. Und in Zeiten des Lehrermangels findet meist ohnehin jeder eine Stelle, der sich soweit durchgeschlagen hat.

Im Seminar mit Olga, Katharina und Carolin gibt es solche Dramen nicht. Doch auf die Frage nach Jobalternativen werden die Köpfe geschüttelt. „Für mich gibt es nichts anderes als Lehrer“, sagt Carolin, „sonst hätte ich ein Problem.“ Klar ist für alle: „Irgendetwas mit Kindern“ soll es sein. Für erfahrene Berater wie den Geschäftsführer des Zentrums für Lehrerbildung der Universität Heidelberg, Erich Streitenberger, ist selbst das ein gefährliches Motiv. Für den Lehrerberuf brauche man Mut und müsse mit Stress umgehen können. „Das Argument, dass man sich gerne mit Kindern beschäftigt, reicht nicht“, sagt Streitenberger.

Je nach Studie gelten heute bis zu 25 Prozent der Lehrer als Risikofälle, im Seminar kommen den Beratern bei zehn bis 15 Prozent der Teilnehmer größere Bedenken. Trotzdem will das Pflichtseminar in Kassel kein Dschungelcamp für Junglehrer sein. Die Studierenden auszusortieren, die den Probeunterricht nicht bestehen, würde dem Charakter des Kurses widersprechen, sagt Psychologin Elke Döring-Seipel, die das Programm gemeinsam mit einem Erziehungswissenschaftler leitet. Nolle und seine Kollegen beraten am Ende jeden Teilnehmer individuell. Noten oder Rankings gibt es nicht.

Das Angebot sei ein wenig so, wie man sich moderne Schule vorstellen sollte: Kein Aussortieren, sondern individuelle Hilfe auf dem Weg zum Ziel, erklärt Döring-Seipel. Dies nehme nicht nur die Studenten in die Pflicht. Wer angehende Lehrer auf ihre Defizite stoße, müsse eine Unilehre anbieten, die diese ausgleichen helfe. Nicht einfach im Zeitalter der Massenuniversität. „Da muss noch einiges getan werden“, sagt die Psychologin selbstkritisch.

Bei einer kürzlich veröffentlichten Umfrage des Bayerischen Lehrerverbands unter 565 Referendaren über ihr Studium erhielt die Lehrerausbildung schlechte Noten. Eine 4,1 aus dem Spektrum von eins bis sechs gab es für die Vermittlung erzieherischer Fähigkeiten, eine 4,3 für die Vorbereitung des Unterrichts. Die Universitäten könnten es sich nicht mehr leisten, „die Lehrerbildung als fünftes Rad der Fachwissenschaft mitlaufen zu lassen“, kommentierte der Präsident der Technischen Universität München, Wolfgang A. Herrmann, die Studie.

Zumindest bei Beratung und Auswahl der Junglehrer gibt es an Hochschulen bundesweit Bewegung. Die Universität Frankfurt hat wie viele andere eine eigene Beratung samt Coaching aufgebaut. Und Baden-Württemberg führt ab dem Wintersemester 2010/2011 einen verbindlichen Onlinetest zur Selbsteinschätzung ein, der vor der Studienbewerbung absolviert werden muss. Für Döring-Seipel könnte das eine sinnvolle Ergänzung zum Seminar für die Erstsemester sein.

Kritisch wird von den Experten an der Universität Kassel dagegen der Ansatz gesehen, bei dem eine Bewerberauswahl einem Assessment-Center gleicht, in dem Kandidaten ausgesiebt werden. Nolle fürchtet, unter Prüfungsdruck blieben Bewerber verschlossen. Psychologin Döring-Seipel sagt, nach den Begegnungen mit angehenden Lehrern verstünde sie Eignung mehr als Prozess: „Wir finden es etwas verwegen, bei 18-Jährigen zu sagen, der hat diese oder jene Kompetenz.“

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