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Foto: Hans-Georg Merkel

© picture-alliance/ dpa

Schulreform: Gemeinschaftsschule kann funktionieren

Das Konzept Gemeinschaftsschule kann Erfolg haben: Wenn die Schüler gelernt haben, voneinander zu lernen.

Sekundarschulen, Gemeinschaftsschulen oder Stadtteilschulen fördern die Heterogenität in den Klassenzimmern. Kinder mit unterschiedlichen intellektuellen, sprachlichen, sozialen, kulturellen, religiösen und gesundheitlichen Voraussetzungen sitzen in einem Raum und sollen gemeinsam lernen. Individuelle Förderung heißt das neue Zauberwort. Geht das?

Das Schöne an der Vielfalt ist, dass sie belebt. Sie bringt Farbe in den Unterricht und sorgt für vielfältige Anregungen und Herausforderungen. Letztlich haben alle Kinder ihre Talente. Die einen können besser reden, die anderen besser lesen. Die einen haben viel Fantasie, die anderen sind handwerklich geschickter. Die einen arbeiten gut und gerne in Gruppen, die anderen sind top im logisch-mathematischen Denken. Die einen können gut zeichnen und strukturieren, die anderen haben Stärken beim Auswendiglernen. Wichtig ist, dass alle diese Kinder ernst genommen und angesprochen werden. Dazu braucht es variable Lernangebote und Lernaufgaben.

Die Förderarbeit in Deutschlands Schulen liegt allerdings im Argen – besonders in den Sekundarstufen. 24 Prozent aller Schüler bleiben bis zum 15. Lebensjahr mindestens einmal sitzen. Das kostet die Gesellschaft jährlich mehr als eine Milliarde Euro, bringt den betroffenen Schülern erwiesenermaßen aber kaum etwas. Hinzu kommen weitere 1,5 Milliarden Euro pro Jahr für privaten Nachhilfeunterricht. Trotzdem gelangen gut 20 Prozent der 15-Jährigen nicht zur Ausbildungsreife, das heißt, sie bleiben in Deutsch und Mathematik auf dem Niveau von Viertklässlern sitzen. Der Weg in die Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe ist vorgezeichnet. Das alles signalisiert das Versagen der innerschulischen Förderarbeit.

Die Bildungsverantwortlichen plädieren für mehr individualisiertes Lernen. Die Schüler sollen stärker gemäß ihren Begabungen, Neigungen und Interessen auswählen können – auswählen zwischen unterschiedlichen Aufgaben, Schwierigkeitsgraden, Medien, Lernpartnern und Lernzeiten. Die Hoffnung ist, dass sich die Kinder durch diese Wahlmöglichkeiten besser angesprochen und motiviert fühlen. Der eine sucht was Schwieriges, der zweite was Leichteres, der dritte mag Gruppenarbeit, der vierte eher Einzelarbeit, der fünfte ist lieber handwerklich tätig, der sechste liest gerne. Jeder kann seinen Stärken und Schwächen folgen. Das Problem ist nur, dass Kinder natürlich auch ausweichen und ungeliebte Anstrengungen vermeiden können. Außerdem besteht die Gefahr, dass bei freier Partnerwahl einige Kinder alleine gelassen werden. Das ist gerade für Migrantenkinder und etwaige „Außenseiter“ eine ziemliche Bedrohung. Wen niemand haben will, der verliert leicht die Lust am Lernen.

Das A und O in heterogenen Lerngruppen ist, dass die Kinder gezielt unterstützt und ermutigt werden. Sie müssen fachlich wie sozial Anschluss finden und Anschluss halten können. Das ist der Kern der schulischen Förderarbeit. Das Problem ist nur, dass die Lehrpersonen in Deutschlands Schulen häufig 25 bis 30 Kinder vor sich haben, die sie unmöglich alle zur gleichen Zeit beobachten, beurteilen, betreuen und beraten können. Zudem sollen sie nämlich auch noch die Klasse als Ganzes unterrichten. Die Politik hätte diesen Spagat zwar gerne, letztlich ist er aber ziemlich illusorisch. Das gilt vor allem dann, wenn extrem unterschiedliche Kinder zusammenkommen. Dann helfen eigentlich nur noch Doppelbesetzungen und/oder zusätzliche Förderlehrer, die sich um die „Extremfälle“ kümmern. Erst dann wird „Inklusion“ möglich. Hier müssen die Schulministerien noch kräftig zulegen.

Die Alternative zur erwähnten Einzelkindbetreuung ist klar: Die Lehrkräfte müssen ihre Schüler dazu qualifizieren, sich selbst zu helfen und miteinander zu arbeiten. Viele Schüler kommen im Unterricht nämlich allein deshalb nicht zurecht, weil ihnen die nötigen methodischen Einsichten und Werkzeuge fehlen. Sie werkeln irgendwie vor sich hin, stören oder resignieren gleich ganz. Wenn ein Schüler zum Beispiel nicht weiß, wie und warum man Texte markiert, dann wird er möglicherweise bereits an diesem Punkt scheitern. Gleiches gilt für den Fall, dass er mit den Regeln guter Gruppenarbeit nicht vertraut ist oder keine rechte Klarheit darüber hat, wie man ein Plakat gestaltet, eine Folie erstellt oder einen guten Vortrag hält. Daher müssen die Schüler methodisch verstärkt geschult werden. Dazu gibt es Übungen und Gespräche, Beispiele und Tipps. Der Grundgedanke dabei ist der: Je versierter die Schüler in methodischer Hinsicht sind, desto besser können sie in der Klasse mitmachen und ihre unterschiedlichen Talente entfalten.

Ein weiteres wichtiges Förderprinzip ist die Zusammenarbeit der Kinder. Wenn sie in der Klasse voneinander und miteinander lernen, dann ist das im besten Sinne des Wortes hilfreich und motivierend. „Wechselseitiges Lehren und Lernen“ heißt der entsprechende pädagogische Ansatz. Die Schüler sorgen durch gegenseitiges Fragen und Helfen, Besprechen und Erklären dafür, dass jeder einzelne immer wieder Anschluss suchen und finden kann. Kein Schüler bleibt alleine und keiner kann sich unbesehen aus der Verantwortung für sich und anderen stehlen. Dafür sorgen spezielle Regeln und Rituale. So gibt es in jeder Gruppe Regelwächter und Zeitwächter, Gesprächsleiter und Materialwarte. Jeder wird also gebraucht, und jeder trägt eine gewisse Verantwortung für das Vorankommen der Gruppe. Darüber hinaus werden sowohl die Mitglieder der einzelnen Gruppen als auch deren Gruppensprecher immer wieder mal ausgelost. Das hat zur Folge, dass jeder mit jedem zusammenkommen kann. Das stärkt das Wir-Gefühl und das Interesse am jeweils anderen.

Viele Eltern befürchten, dass ihre Kinder in heterogenen Lerngruppen zu wenig lernen. Vorausgesetzt, Teamgeist und Arbeitsdisziplin stimmen, kann Entwarnung gegeben werden. Wie die Nachhilfearbeit zeigt, profitiert vom Nachhilfeunterricht gemeinhin der am meisten, der ihn erteilt. Warum? Weil das Erklären und Besprechen hilft, die eigenen Gedanken zu ordnen sowie sozial und emotional dazuzulernen. Wichtig dabei: Je angstfreier die Situation ist und je häufiger Ähnliches erklärt wird, desto nachhaltiger wird gelernt. Warum? Weil Angstfreiheit und Wiederholung dem Gehirn gut tun und entspanntes Denken begünstigen. Wenn also Lucas Arjeta hilft, dann gewinnt er nicht nur an sozialer und interkultureller Kompetenz dazu, sondern auch an fachlicher Klarheit und Souveränität. Von daher hilft die Zusammenarbeit auch und nicht zuletzt den cleveren Kindern. Das sollte ehrgeizige Eltern zutiefst beruhigen.

Lehrer können sich an der „Lernspirale“ orientieren. Kommt ein Schüler etwa beim Anhören eines Märchens nicht recht mit, so kann er sich im zweiten Arbeitsschritt bei seinen Lernpartnern, die ihm per Los zugeordnet wurden, Rat holen. Da diese Lernpartner durch Zufallsverfahren bestimmt werden, ist sichergestellt, dass auch ein gewisses Helferpotenzial vorhanden ist. Auch im dritten Arbeitsschritt ist Nachhilfe möglich. Zwar muss dabei jeder Schüler für sich alleine einen Spickzettel zum gehörten Märchen erstellen, die einzelnen Gruppenmitglieder sitzen jedoch nach wie vor beisammen und können einander bei Bedarf abermals beraten. Dieser ermutigende Mix von Lernpartnern, Lerntätigkeiten und Lernmethoden kennzeichnet auch die weiteren Arbeitsschritte. Wichtig dabei: Die Schüler müssen im Plenum erst dann Rechenschaft ablegen, wenn sie sich zuvor in mehreren kleinen Arbeits- und Kooperationsschritten haben vorbereiten können. Das schafft Sicherheit und mehrt die Erfolgsaussichten der unterschiedlichen Kinder.

Fazit: Gemeinschaftsschulen machen nur dann einen Sinn, wenn die unterschiedlichen Kinder differenziert gefördert werden. Dazu braucht es kleinere Klassen, mehr Personal, Ganztagsbetrieb und vor allem eine Lehrerbildung, die den Lehrkräften das nötige Rüstzeug für die skizzierte Förderarbeit vermittelt. Dieses Fundament muss schleunigst geschaffen werden.

Der Autor ist Dozent am Lehrerfortbildungsinstitut der evangelischen Kirchen in Landau/Pfalz und hat zahlreiche Texte zur Schul- und Unterrichtsentwicklung veröffentlicht. Sein neuestes Buch „Heterogenität im Klassenzimmer. Wie Lehrkräfte effektiv und zeitsparend damit umgehen können“ ist im Beltz-Verlag erschienen und kostet 29,95 Euro.

Heinz Klippert

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