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Dutzende Schwangere erfahren jedes Jahr in Deutschland, dass sie mit HIV infiziert sind. Bis in die 90er Jahre wurde ihnen eine Abtreibung empfohlen. Das ist heute anders

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Schwangerschaft und HIV: Der Wunsch und das Virus

Dutzende Schwangere erfahren in Deutschland jedes Jahr, dass sie mit HIV infiziert sind. Bis in die 90er wurde ihnen eine Abtreibung empfohlen. Das ist heute anders - trotzdem stehen diese Mütter vor besonderen Herausforderungen.

Für Sonja Gutjahr (Name geänd.) ist der Bluttest beim Frauenarzt eigentlich Routine. 2005 ist sie zum fünften Mal schwanger. Sie kennt den Ablauf. Sie hat vier gesunde Kinder und schmiedet Zukunftspläne mit ihrer Familie. Da kracht die Diagnose in ihr Leben: HIV-positiv. „In dem Augenblick hat es mir den Boden unter den Füßen weggezogen. Ich bin zusammengebrochen“, sagt sie. Noch aus der Praxis ruft sie ihren Freund an, der sofort zu ihr fährt. Sie sei ein Häufchen Elend gewesen, sagt Gutjahr. Noch Wochen später läuft in ihrer Wohnung ohne Unterlass das Fernsehgerät. Sie hat Angst zu sterben und diese Furcht entzieht sich dem Verstand. Der Tod könnte kommen, wenn die Flimmerkiste verstummt.

Jedes Jahr werden 250 HIV-positive Frauen schwanger

Gutjahr ist kein Einzelfall. Jedes Jahr werden in Deutschland etwa 250 HIV-positive Frauen schwanger. Knapp die Hälfte ahnt nichts von der Infektion. Sie haben sich unbemerkt angesteckt, fühlen sich gesund und freuen sich auf ihr Kind.

„Im Moment der Diagnose stürmen alle erdenklichen Schreckensbilder auf die betroffenen Frauen ein“, sagt Annette Haberl vom HIV-Center des Frankfurter Universitätsklinikums. Aids: eine grausige Seuche, Siechtum, der baldige Tod. Sie haben ein Baby im Bauch und werden nie Mutter sein. Ihr Kind, noch nicht geboren, ist schon dem Tod geweiht. Bis in die neunziger Jahre rieten Ärzte HIV-positiven Schwangeren häufig zur Abtreibung. Das Kind würde sowieso sterben, dachte man damals, und die Mutter bald auch.

HIV ist kein Grund, auf ein Kind zu verzichten

Die alte Lehrmeinung und die alten Emotionen sitzen im Langzeitgedächtnis wie ein kollektives Trauma. Dabei sieht die Realität heute ganz anders aus. „Wir müssen die Frauen in den HIV-Schwerpunktzentren ganz schnell auffangen“, sagt Haberl. Ihre Kernbotschaft an die aufgelösten Frauen: „HIV ist kein Grund, auf ein Kind zu verzichten.“ Das ist dem medizinischen Fortschritt zu verdanken. Seit 1996 hindert die antiretrovirale Therapie aus mindestens drei Wirkstoffen das Virus daran, sich im Körper auszubreiten. Die Betroffenen sind HIV-positiv, erkranken aber nicht an der tödlichen Immunschwächekrankheit. Ihr Risiko für einige Erkrankungen ist zwar erhöht, aber den meisten Prognosen zufolge sterben sie kaum früher als andere auch. Die HIV-Infektion kommt bei ihnen eher einer chronischen Erkrankung gleich.

Mitte der neunziger Jahre tauchten auch die ersten Hinweise auf, dass die Medikamente die Übertragung der Erreger auf das Baby drastisch vermindern. Darauf beruht die heutige Behandlung HIV-positiver Schwangerer. Sie bekommen antivirale Medikamente, die die Virusmenge in ihrem Blut so weit verringern, dass das Kind vor einer Infektion geschützt wird. Die Zahl der HIV-positiv geborenen Kinder ist dadurch in den Industrienationen auf einen Schlag um mehr als 90 Prozent zurückgegangen. Seit einigen Jahren können behandelte Frauen sogar natürlich entbinden. Ehedem hatte man zum Kaiserschnitt geraten.

Weniger als ein Prozent der Kinder stecken sich an

Bei optimaler Therapie liegt die Übertragungsrate unter einem Prozent, berichtet Haberl. Am Frankfurter Zentrum steckten sich in den vergangenen Jahren nur 0,6 Prozent der Babys bei der Mutter an. Oft wurde in solchen Fällen die Infektion zu spät bemerkt, weil sich die Frauen gegen den Test in der Frühschwangerschaft entschieden hatten. Manchmal weigern sich Schwangere aber auch, die Tabletten zu schlucken oder nehmen sie nur nachlässig ein. „Eine Infektionsrate von null Prozent, wie von den Vereinten Nationen gefordert, wird es nie geben“, sagt Haberl.

Der Fortschritt hat sich noch nicht überall herumgesprochen. Erst kürzlich kam eine Schwangere zu Haberl, die Überweisung zum Abbruch schon in der Tasche. Dass sie ihr Baby gesund gebären kann, dass sie es aufwachsen sehen kann wie jede andere Mutter auch, wusste sie nicht. Nach dem Gespräch mit der Frankfurter HIV-Spezialistin ist sie froh, dass sie die Adresse auf dem weißen DIN-A4-Papier noch nicht aufgesucht hat. „Heute bekommen nicht wenige jener Frauen, die in den neunziger Jahren abtrieben, Kinder, weil sich die Empfehlungen geändert haben“, sagt Ute Lange. Die Hebamme aus Wuppertal betreut regelmäßig HIV-positive Schwangere.

Erste Erfolge bei HIV-positiven Neugeborenen.

Ein Kind großziehen. Noch vor wenigen Jahren rieten Ärzte zur Abtreibung, wenn die Schwangere HIV positiv war. Dank Fortschritten in der Medizin sind die Chancen auf ein langes Leben für Kind und Mutter heute wesentlich besser.
Ein Kind großziehen. Noch vor wenigen Jahren rieten Ärzte zur Abtreibung, wenn die Schwangere HIV positiv war. Dank Fortschritten in der Medizin sind die Chancen auf ein langes Leben für Kind und Mutter heute wesentlich besser.

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Selbst wenn ein Kind infiziert zur Welt kommt, gibt es inzwischen Hoffnung. Das sogenannte Mississippi-Baby, das vor dreieinhalb Jahren im US-Bundesstaat mit HIV geboren wurde, behandelten Ärzte um Deborah Persaud vom Johns-Hopkins-Kinderzentrum in Baltimore sofort mit antiviralen Medikamenten. Bis heute finden sie keine Viren im Blut des Mädchens. Persaud stellte kürzlich auf einer HIV-Konferenz in Boston ein zweites so behandeltes Baby vor und kündigte den Aufbau eines Registers an.

Das wichtigste Ziel sei es aber, dass es gar nicht so weit kommt, sagt Haberl. Auch wenn die Diagnose HIV ein Schock in der Schwangerschaft sei, helfe sie doch mindestens drei Menschen, wenn die Infizierte sich behandeln ließe: Sie selbst entrinnt dem Ausbruch der Immunschwächekrankheit. Ihr Baby kann HIV-negativ zur Welt kommen und ihr Partner wird im besten Fall vor einer Ansteckung geschützt.

Die Mutter will stillen - ein Risiko

Gutjahr hält sich an den ärztlichen Rat. Die Tabletten verträgt sie gut. Trotzdem kann sie die Schwangerschaft nicht genießen, zu tief sitzt der Schrecken. „Ich hatte immer wieder Suizidgedanken und war sehr passiv. Ich habe lange gebraucht, das zu verkraften“, sagt die Frau, der man das sieben Jahre danach kaum glauben mag, weil ihre Stimme so viel Zuversicht und Lebensmut verströmt.

2012 wird Gutjahr ungeplant noch einmal schwanger. Ihr Partner, HIV-negativ, ist an ihrer Seite geblieben. Ihre Infektion stammt wohl von einem früheren Seitensprung, einer Disco-Affäre. Dieses Mal ist die 42-Jährige bestens vorbereitet und bangt nicht um ihr Kind und ihr eigenes Leben. Doch es gibt einen anderen Konflikt: Gutjahr ist fest entschlossen, ihr Kind zu stillen, weil sie das bei ihrem fünften Kind schmerzlich vermisst hat. „Es hat mich vollkommen mitgenommen“, erzählt sie. „Die Mutter-Kind-Einheit hat mir gefehlt.“

Die Ärztin hat Verständnis

Doch in der Muttermilch schwimmen die gefährlichen Viren, und es ist bekannt, dass manche Frauen darüber ihr Baby angesteckt haben. Deshalb wird vom Stillen unbedingt abgeraten. Gutjahr lässt sich davon nicht beirren. Sie glaubt fest daran, dass sie ihr Kind nicht anstecken kann, wenn sie die Tabletten nimmt, so wie sie ihren Partner beim Sex kaum anstecken kann, weil die Zahl der Viren extrem gering ist. Doch ohne ärztliche Betreuung will sie den waghalsigen Schritt nicht riskieren. Bei Haberl stößt sie auf Verständnis. Die Ärztin ist sich ebenfalls sicher, dass die Viruslast unter Therapie zu gering für eine Übertragung ist. Trotzdem kann sie das Experiment nur unter strenger ärztlicher Kontrolle verantworten. Die sechsfache Mutter muss während der Stillzeit die antiviralen Mittel nehmen und jeden Monat zur Blut- und Muttermilchprobe kommen. Die Zahl der Erreger bleibt unter der Nachweisgrenze. Trotzdem gibt es ein Restrisiko. Erst nach einigen Monaten steht fest: Das Kind ist verschont geblieben.

Haben die HIV-Medikamente Folgen für die Kinder?

An der Empfehlung werde sich aber nichts ändern, sagt Haberl. Denn nicht nur die Viren, auch die HIV-Medikamente gelangen in die Muttermilch. Und die Mittel sind allesamt nicht an Schwangeren geschweige denn an Säuglingen getestet. Der Kinderarzt George Siberry vom Johns-Hopkins-Kinderzentrum in Baltimore berichtete auf der Bostoner Konferenz, dass Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft die Arznei Tenofovir erhielten, eine geringere Knochendichte hätten. Bereits zuvor hatte er einen geringeren Umfang des Kopfes im Alter von einem Jahr gemessen. „Wir sehen das in unseren Daten nicht“, entgegnet Haberl. „Aber wir müssen wachsam sein, was mögliche Langzeiteffekte bei den Kindern betrifft.“ Um Nebenwirkungen zu erfassen, macht sich Haberl für den Aufbau eines HIV-Schwangerschaftsregisters stark.

In Frankreich gibt es so eine Datenbank bereits. Die Epidemiologin Jeanne Sibiude begutachtete jüngst die Informationen der erfassten 13 000 Kinder. Sie fand kaum Auffälliges. Nur die Arznei Zidovudine ging mit geringfügig mehr Herzfehlern einher und Efavirenz mit nervlichen Erkrankungen, berichtete die Forscherin jetzt im Fachjournal „Plos One“. Die Zusammenhänge waren jedoch so schwach, dass sie verschwanden, wenn sie weniger strenge Diagnosekriterien für Herz- und Nervenanomalien anlegte.

HIV ist weiterhin ein Stigma - besonders für Mütter

Nicht stillen zu dürfen, ist für viele betroffene Frauen ein Stigma. „Insbesondere für Frauen aus dem afrikanischen Kulturraum gehört es zur stolzen Mutterschaft, dem Kind die Brust zu geben“, sagt der Psychologe Horst Herkommer aus Frankfurt, der HIV-positive Mütter betreut. Wenn der Familienverband mitbekommt, dass nicht gestillt wird, schöpft er Verdacht. „Es werden deshalb viele Anstrengungen unternommen, das zu verheimlichen“, sagt er. Eine HIV-positive Frau „fliegt aus der Gemeinschaft“.

Vorurteile und Ächtung – auch einheimische Frauen werden damit konfrontiert. „Wenn sie sich mit ihrer Infektion outen, bekommen sie zu hören: Wie kannst du denn da ein Kind bekommen?“, erzählt Lange. Krankheit und Behinderung waren schon einmal ein Reproduktionstabu. Die Hebamme erinnert das an die perfide Rassenhygiene des Dritten Reiches. „Seither verbietet es sich eigentlich, darüber zu richten, wer Kinder bekommt. Aber bei den HIV-Positiven ist dieses Denken plötzlich wieder da.“

Die Hebamme kritisiert ein engstirniges Mutterbild

Lange macht ein extrem konservatives und engstirniges Mutterbild für die Ausgrenzung der betroffenen Frauen verantwortlich. Eine gute Mutter muss vor Kraft und Fürsorge strotzen und natürlich gesund sein. „Mütter mit chronischen Erkrankungen, Behinderungen oder gesundheitlichen Beschwerden sind eine gesellschaftliche Provokation“, sagt die Hebamme.

Dabei ist der Fortschritt schon ein paar Jahre alt und alles könnte so normal sein. Lange vergisst meist, welche ihrer Schwangeren HIV-positiv ist. „Die haben sowieso alle die gleichen Fragen: Was kann ich tun, wenn es schreit? Wie kann ich eine gute Mutter sein?“

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