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Zuwendung. Internationale Hilfsorganisationen wie Ärzte ohne Grenzen (hier im April im Einsatz in Misrata, Libyen) stehen für eine Neubesinnung auf Menschenrechte und Mitmenschlichkeit nach 1945.

© AFP

Serie "Identitäten" - dritte Folge: Bitte nicht cool bleiben

Sind wir eine mitfühlende Gesellschaft? Oder nur weniger grausam? Von der Lust am Schandpfahl zur Empathie ist es ein weiter Weg, meint die Historikerin Ute Frevert im dritten Teil unserer "Identitäten"-Serie.

Ist der moderne Mensch empathisch? Hat er Mitgefühl – mit seinen Mitmenschen, vielleicht sogar mit Tieren und Pflanzen? Oder ist er ein homo oeconomicus, wie ihn die klassische Wirtschaftstheorie beschreibt: rational kalkulierend, egoistisch seine materiellen Interessen wahrend, mit kühlem Kopf handelnd? Führt er sein Leben unter dem Motto „cool bleiben“ oder folgt er seinen Gefühlen und lässt sich auf die anderer ein?

Solche Fragen beschäftigen die moderne Wissenschaft, seit es den modernen Menschen gibt. Adam Smith, der 1776 die Bibel der neuen kapitalistischen Wirtschaftsordnung verfasste und das Eigeninteresse als deren zentrale Antriebskraft rühmte, schrieb siebzehn Jahre früher ein Buch über „moralische Empfindungen“. Self-love, Eigenliebe, sei zwar gut und schön, hieß es darin, reiche aber nicht aus. Gesellschaften brauchten noch etwas anderes – nämlich sympathy, Mitgefühl. Ohne Mitgefühl sei soziale Kommunikation und Kooperation nicht denkbar. Menschen, die einander nur kalt und berechnend gegenüberstünden, könnten keine dauerhaften, stabilen und erfolgreichen Beziehungen eingehen, weder in der Familie noch auf dem Markt oder in der Politik.

Aber woher nehmen, wenn nicht stehlen? Wie konnte der moderne Mensch dazu gebracht werden, sich nicht nur egoistisch, sondern auch empathisch zu verhalten? Vormoderne Gesellschaften hatten sich auf Institutionen wie Kirche und Religion verlassen können, die verbindliche moralische Grundsätze formulierten. Das jüdisch-christliche Gebot „Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst“ erfuhr zwar verschiedene, zuweilen auch konkurrierende Ausdeutungen, enthielt aber gleichwohl eine klare Handlungsanweisung und motivierte vielfältige „Werke der Barmherzigkeit“ (misericordia).

Solche religiös fundierten und vermittelten Gebote, Motivationen und Werke wirkten zweifellos auch in der modernen Gesellschaft fort. Sie säkularisierte sich längst nicht so rasch und durchgreifend, wie häufig angenommen. Zugleich jedoch suchten die neuen „Moralisten“ nach anderen Grundlegungen – und fanden sie in der Natur sowie in der sozialen und kulturellen Umwelt des Menschen. Mitgefühl liege, meinte Smith, ebenso in der menschlichen Natur wie Egoismus und all die anderen „original passions of human nature“. Ob diese natürliche Fähigkeit zum Mitleiden und zur Mitfreude allerdings aktiviert und in konkrete Taten umgesetzt werde, hänge von einer Vielzahl von Bedingungen ab. Dazu zähle räumliche Nähe ebenso wie soziale Vertrautheit.

Beurteilt werden müsse auch, ob jemand unschuldig oder verschuldet in eine Lage geraten sei, die das Mitgefühl der anderen herausfordere. Sollen wir Mitgefühl mit einer Kindsmörderin haben, die auf dem städtischen Richtplatz enthauptet wird? Oder mit einem Dieb, der an den Pranger gestellt und öffentlicher Beschämung preisgegeben wird? An solchen Fragen entzündeten sich im 19. Jahrhundert heftige Kontroversen, in denen zum einen ein neues Bild des (gefallenen) Menschen, seiner Würde und seiner Rechte verhandelt wurde. Zum anderen ging es um das empathische Selbstbild der Bürgerinnen und Bürger, die sich im teils schreckstarren, teils schadenfrohen Publikum allgegenwärtiger Hinrichtungen und Schandpfähle nicht mehr wiedererkennen wollten.

Hier tat sich ein Identitätswandel kund, der massive soziale Konsequenzen zeitigte. Er bildete sich in den Bewegungen zur Abschaffung der Sklaverei ebenso ab wie in den Initiativen gegen Tierquälerei und in den Kinderschutzvereinen, die allesamt im 19. Jahrhundert entstanden. Auch Gefängnisreformen oder die Gründung des Roten Kreuzes verdankten sich einer neuen, gesteigerten Wertschätzung des Mitgefühls in den europäischen Gesellschaften, die sich selber als Speerspitze der Zivilisation betrachteten. Zivilisiert oder kultiviert zu sein, bedeutete das Gleiche wie Mitgefühl zu zeigen. Über das richtige Maß und den angemessenen Ausdruck von Empathie gab es zwar scharfe Auseinandersetzungen; unbestritten aber waren ihre Notwendigkeit und Wünschbarkeit.

Unbestritten war auch, dass Empathie kein Monopol von Frauen sein sollte. Obwohl sie, wie die zeitgenössisch herrschende Meinung befand, gemeinhin mitfühlender seien als Männer, sahen sich auch die Herren der Schöpfung aufgerufen, ihre Herzen zu öffnen für die Empfindungen anderer. Vor allem dann, wenn es leidvolle Empfindungen waren, standen Männer in der Pflicht, auf tätige Abhilfe zu sinnen. Wer sich damit begnüge, das eigene Gefühl lediglich „mittönen“ und sich „blos leidend afficiren zu lassen“, der, entschied Immanuel Kant 1798, handele „läppisch und kindisch“. Der Philosoph hatte dabei vornehmlich jene Frauen (und manche Männer) im Blick, die sich an sentimentalen Romanen ergötzten und Tränen vergössen über das Schicksal von Richardsons Clarissa, Rousseaus Julie oder Goethes Werther. Das sei schwächelnde „Empfindelei“, kritisierte Kant, beherzter männlicher Intervention diametral entgegengesetzt.

Die Unterschriften unter den Antisklaverei-Petitionen und Mitgliederlisten von Reformvereinen signalisierten allerdings, dass auch Frauen einen „starken“ Sinn für praktisches Mitgefühl entwickelten und sich beileibe nicht bloß aufs Romanelesen verstanden. Oft waren sie es, die die Initiative ergriffen, selbst wenn sie Männern im Vereinsvorstand den Vortritt ließen. Dabei wussten sie ihre Empathie durchaus auch für eigene politische, soziale und ökonomische Interessen einzusetzen. Als Krankenschwestern, Sozialfürsorgerinnen oder Armenpflegerinnen erschlossen sie weibliche Berufsfelder, die die „Zivilisierung“ der eigenen Gesellschaft aktiv beförderten.

Mit Empathie beobachteten sie zudem, welche Schwierigkeiten Frauen in anderen, vorgeblich unzivilisierten Ländern gewärtigten. Britische Suffragetten machten sich für die Rechte ihrer indischen „Schwestern“ stark, deutsche Frauen engagierten sich für die „bürgerliche Verbesserung“ von Afrikanerinnen – nicht ohne Eigeninteresse, und nicht ohne prononcierte Anklänge von Überlegenheitsgefühlen und Herrschsucht.

Dass Europäer im Zeichen solcher Zivilisierungsmissionen zugleich immer wieder brutale Verbrechen begangen, zeigt die dunkle Seite des Kolonialismus an und verweist auf manifeste Grenzen der Empathie. Jene Grenzen wurden auch innerhalb Europas sichtbar. Rassistische Ideologien, wie sie seit dem späten 19. Jahrhundert kursierten, betonten die Unverträglichkeit und den Antagonismus einzelner Menschengruppen. Sie bauten Distanz und Feindschaft auf, was Mitgefühl so gut wie ausschloss. Am radikalsten gebärdete sich der Nationalsozialismus, der Juden, aber auch Zigeuner, Homosexuelle oder Slawen als Schädlinge und „Untermenschen“ ausgrenzte und zur Vernichtung bestimmte. Mitleid, hieß es 1939 in Meyers Lexikon, gäbe es nur für und unter „Gemeinschaftsgenossen“; Menschen, die außerhalb jener Gemeinschaft standen, verdienten es nicht.

Das Entsetzen über die allgemeine, auch außerhalb Deutschlands verbreitete Mitleidlosigkeit führte nach 1945 zu einer kraftvollen Neubesinnung auf Menschenrechte, Menschenwürde und Mitmenschlichkeit. Das empathische Ich erfuhr weltweite Unterstützung und Ermunterung, von den Vereinten Nationen über die Hilfswerke der christlichen Kirchen bis hin zu zivilgesellschaftlichen Initiativen wie Terre des Hommes (gegründet 1959), Amnesty International (1961) oder Ärzte ohne Grenzen (1971). Hunderttausende betätigen sich darin, um ihrem Mitgefühl für von Bürgerkriegen, Naturkatastrophen, Krankheit und Armut Betroffene praktischen Ausdruck zu verleihen. Noch viel mehr Menschen geben Geld, zehn Milliarden Dollar jährlich, Tendenz steigend.

Ist das nicht ein klares Zeichen, dass wir nun tatsächlich eine „empathische Zivilisation“ ausgebildet haben? Eine Zivilisation zudem, die keine nationalen oder ethnischen Begrenzungen mehr kennt, sondern die Welt als Ganze umfasst. Sprechen unsere freiwilligen Spenden für die Opfer von Tsunamis, Erdbeben, Überschwemmungen und Hurricanes nicht für unsere Identität als Weltbürger, die ihren Mitmenschen mitfühlend und hilfsbereit gegenübertreten?

Man könnte es so sehen. Aber man kann auch kritisch auf die Rolle der Medien verweisen, deren (selektive) Bilder Empathie hervorrufen, jedoch auch abstumpfen lassen. Und man kann die blinden Flecken jenes Mitgefühls identifizieren, die allgegenwärtigen kulturellen Schieflagen und emotionalen Abschottungen. Wir praktizieren sie tagtäglich, in der Welt, aber auch und vor allem in unserer Gesellschaft, in unserer Stadt. Das empathische Ich: Das ist auch heute eine Identität in the making, deren Grenzen immer wieder neu gezogen und verhandelt werden.

Ute Frevert

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