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Serie "Identitäten" - elfte und letzte Folge: Der Berliner ist ein Auslaufmodell

Nur ein Bruchteil der heutigen Berliner ist noch in Berlin geboren. Dreiviertel der 3,5 Millionen Einwohner sind zugezogen, knapp 800.000 haben einen Migrationshintergrund. Der Kiez wird um so wichtiger.

Wenn man in Köln lebt, ohne dort geboren zu sein, womöglich, ohne rheinischen Akzent zu sprechen, hat man kein leichtes Los. Als „Immi“, als „Immigrant“, gilt man nicht viel in einer Stadt, die in ihrer statistischen Broschüre leicht zugänglich ausweist, wer ein „echter Kölscher“ ist. Sprich: wer in der Stadt geboren ist. Das sind immerhin 40 Prozent der Kölner. Aber selbst wenn ein Immi nicht abschätzig angesehen wird, kann es passieren, dass man in seiner Stammkneipe gefragt wird, wo man denn „seine Wurzeln habe“. Will sagen: Dass Du ein Kölner sein möchtest, glaube ich Dir wohl. Du bist aber keiner. Also: Wer bist Du wirklich?

In Berlin wird das nicht so leicht geschehen.

Die Stadt besteht hauptsächlich aus Zuwanderern – nur etwa ein Viertel der 3,5 Millionen Einwohner sind in der Stadt geboren. Jedes Jahr ziehen etwa 150.000 Menschen zu und 130.000 Menschen ziehen wieder weg. Zwar wird man schon mal gefragt, wo man herkomme. Aber irgendwoher kommt man ja immer. Und auch wenn die Kreuzberger Schwaben einen schlechten Ruf haben, auch wenn die Neuköllner Türken von manchen nicht ohne Weiteres als Deutsche angesehen werden: Als Berliner gelten sie doch, irgendwie. Das Statistische Jahrbuch weist 460.000 Berliner mit nicht deutscher Staatsangehörigkeit aus. Sogar fast doppelt so viele, etwa ein Viertel der Berliner, weisen einen Migrationshintergrund auf, kommen also aus einer nicht deutschen Familie. „Immis“ nach Kölner Muster werden dagegen im Statistischen Jahrbuch gar nicht benannt. Alle sind, so scheint es, „echte“ Berliner.

Umso eigenartiger mutet es an, wenn bei einer Stadtrundfahrt berühmte Berliner Gebäude vorgeführt werden, mit dem Zusatz: „Der Berliner sagt dazu …“. Man möchte in einem solchen Moment gerne wissen, welcher Berliner Türke oder Schwabe die Siegessäule „Goldelse“ oder die Fußgängerbrücke zwischen den Reichstagsgebäuden links und rechts der Spree „Beamtenlaufbahn“ nennt.

Wie wird man zum Berliner, in einer Stadt, die sich so schnell bewegt? Die Frage ist beileibe nicht neu. Sie betraf nicht nur Berlin, sondern alle Städte, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ein rapides Wachstum durchmachten. Berlin aber betraf es besonders. Nachdem der Große Kurfürst die französischen Hugenotten in die Stadt geholt hatte, waren um 1700 ein Drittel der Berliner Franzosen. Dreißig Jahre später kamen 20.000 protestantische Österreicher dazu, die von Maria Theresia wegen ihres Glaubens vertrieben wurden. Viele der Uraltberliner sind also Österreicher oder Franzosen.

Als die Stadt mit Reichsgründung und Industrialisierung explodierte, wurde sie zu einem brodelnden Kessel von Zu- und Abwanderern. Zwischen 1870 und 1914 legte Berlin um etwa 1,2 Millionen Einwohner zu und wuchs damit auf das Zweieinhalbfache. Die Stadt war eine riesige Umwälzpumpe der Migration, die Millionen Menschen anzog und wieder abstieß. In dieser Zeit sind zehnmal so viele Menschen in die Stadt gezogen und wieder gegangen wie geblieben sind. Das macht geschätzte zehn Millionen Zu- und Wegzüge! Man muss sich vorstellen, was das bedeutet für den Lebensraum, der für „den Berliner“ die Welt ist: den Kiez.

Warum entgegen dem allgemeinen Eindruck die Sesshaftigkeit zugenommen hat, erfahren Sie auf der nächsten Seite.

Um 1900 zogen mehr als 40 Prozent der Berliner mindestens einmal im Jahr um. Viele der Schlafgänger, Untermieter oder Wohnungslosen sind damit nicht einmal erfasst. Nur ein Viertel aller Haushalte bestand fünf Jahre oder länger. Für den Kiez bedeutete das: Womöglich ist in zwei Jahren niemand mehr von heute da.

Immerhin war noch mehr als ein Drittel der Menschen in der Stadt geboren. Einer relativ sesshaften Minderheit von Menschen – vor allem in den bürgerlichen Vierteln – stand eine große Mehrheit von Halbnomaden gegenüber. Diese zogen alle paar Monate um, im Winter wanderten sie hinaus aufs Land, wo sie vielleicht eine Datsche hatten, während sie im Sommer in der Stadt Arbeit auf den vielen Baustellen suchten. Auf längere Zeit in der Stadt bleiben zu können, war für viele schon ein Erfolg. Wie konnte der Kiez unter diesen Umständen seinen Charakter behalten, wenn der Wirt und ein paar Stammgäste die einzigen waren, die nächstes Jahr noch da waren? Wie konnte „Heimat“ funktionieren?

Der Berliner Soziologe Georg Simmel hat damals versucht zu verstehen, wie die Menschen diese hochgradige Fluktuation verarbeiteten. Er benannte eine gewisse Indifferenz gegenüber der Umwelt, eine Haltung, die die Bewohner der Metropolen dem Kleinstädter häufig „kalt und gemütlos“ erscheinen ließ. Man glaubt zu wissen, dass er „den Berliner“ vor seinem inneren Auge hatte. Gleichzeitig seien die Großstädter wach und aufmerksam, von einer gewissen Nervosität, weil sie sich ständig auf neue Situationen einstellen müssten. Er benannte aber noch etwas anderes: die relative Freiheit, die daraus entsteht, dass die soziale Kontrolle nicht mehr so gut funktioniert wie in der Kleinstadt, und die viele Menschen in die Großstadt zog, auch wenn die wirtschaftliche Lage meist mehr als kärglich war.

Entgegen der landläufigen Meinung ist die großstädtische Mobilität jedenfalls in dieser Hinsicht heute nicht höher. Die Sesshaftigkeit hat vielmehr zugenommen. Aber immer noch zieht ein Sechstel der Berliner jedes Jahr um, innerhalb Berlins oder ganz weg. Dafür kommen jedes Jahr 150.000 Neuberliner. Sie suchen die Möglichkeiten, die individuelle Freiheit.

Nun weiß jeder, der nur ein klein wenig länger in einem Kiez gelebt hat, dass auch dort die Freiheit ihre Grenzen hat und die soziale Kontrolle funktioniert. Manche dieser Lebenswelten organisieren sich geradezu wie Dörfer, in denen diejenigen, die länger da sind, tun, als ob sie schon immer da gewesen seien. Das scheint gerade im Zeichen des schnellen Wandels zu funktionieren, die derzeitige Gentrifizierungsdebatte atmet ein wenig diesen Geist. Jenseits der beunruhigenden sozialen Verdrängungsprozesse meint man immer eine gewisse Angst vor der Veränderung herauslesen zu können.

Diejenigen, die sie artikulieren, sind häufig selber zugewandert. In den Kreuzberger Kiezen geben oft die den Ton des Protests an, die vor dreißig Jahren zugezogen sind, als studentische Wohngemeinschaften oder Hausbesetzer den Kiez verändert haben. Sie fühlen sich heute wie im gallischen Dorf, dessen Methusalix angesichts eines Neuankömmlings sagt: „Ich habe nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden sind nicht von hier!“ Vor einiger Zeit konnte man in Friedrichshain lesen: „F'Hain den F'Hainern!“ Bloß, wer sind die F'Hainer? In Köln wären es Immis – in Berlin fühlen sie sich als Alteingesessene. Dass das Graffiti von einem anderen Sprayer durchgestrichen wurde, zeigt vielleicht, dass manchem mit solchem Essentialismus unwohl ist.

Der schnelle Wandel gehört zur Großstadt, und er bietet eine Freiheit, die man in Schwaben (oder in Anatolien) nicht hat. Er macht es aber auch schwerer zu sagen, wo man hingehört. Dass Metropolen wie Berlin sich im Kleinen organisieren wie Dörfer, dass auch hier quasi dörfliche Zugehörigkeitsgefühle – und, damit verbunden, Abstoßungseffekte – entstehen, ist ein Modus, mit der Mobilität umzugehen. Man macht sich zum Berliner, und dann sagt man auch schon mal „Goldelse“. Wenn es einem im Kiez nicht gefällt oder man sich die Miete nicht mehr leisten kann, dann zieht man in einen anderen Stadtteil. In Köln würde dies bei vielen auf Unverständnis stoßen. Dort ist man nicht nur Kölner, sondern auch Nippeser oder Ehrenfelder, und man könnte sich nicht vorstellen, in der Südstadt zu wohnen.

Wer in der Großstadt lebt, kommt zwar immer irgendwo her. Aber ob das seine „Wurzeln“ sind, ob das seine „eigentliche“ Identität ausmacht, steht auf einem ganz anderen Blatt. Vielleicht ist der Kiez seine Heimat; und wenn er umzieht, wird ein anderer Ort „Heimat“. Identitäten sind nicht eindeutig, und sie sind wandelbar. Das muss uns nicht nervös machen, wie Simmel meint. Aber wach dahingehend, dass wir auch den anderen Großstädtern zugestehen, „uneigentlich“ zu sein, verschiedene Heimaten zu kennen, verschiedene Zugehörigkeiten zu haben. „Der Berliner an sich“ – wenn es ihn je gab, ist er wohl ein Auslaufmodell.

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