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Tastorgan Zunge. Das Auge nimmt Form, Farbe und Bewegung von Objekten wahr. Nur durch ihr Betasten sind winzige Unebenheiten sowie Oberflächenfilme wie Klebrigkeit oder Öligkeit zu entdecken.

© picture-alliance/ dpa/dpaweb

Sprache im digitalen Zeitalter: Sinn und Sinnlichkeit

Warum sind Charaktere "aalglatt", Witze "saftig" und Blicke "bohrend"? Über die Notwendigkeit griffiger Wendungen

Die klassischen „fünf Sinne“ des Menschen werden heute sehr unterschiedlich beachtet und gefördert. Internet, Fernsehen und Kino sind die Leitmedien des „audiovisuellen Zeitalters“ und vermitteln uns täglich eine Fülle von Informationen. Geschmacks- und Geruchseindrücke sind eng mit dem Wohlbefinden verknüpft, deshalb appellieren die Lebensmittel- und die Parfümindustrie gezielt an sie.

Erst beim Betasten erkennen wir winzige Unebenheiten

Die zahlreichen Leistungen des Tastsinns hingegen bleiben oft unbemerkt, obwohl sie grundlegend für unsere Lebenspraxis sind. In der Evolution ist der Tastsinn als erster Sinn entstanden, und schon lange vor der Geburt betastet der Embryo sich selbst und das Innere der Gebärmutter. Ohne Tasteindrücke könnten wir keine Mitmenschen berühren, keine Objekte handhaben und hätten keine derart komplexe materielle Kultur entwickelt. Während das Sehen die Form, Farbe und Bewegung von Objekten wahrnimmt, entdecken wir nur durch ihr Betasten winzige Unebenheiten sowie Oberflächenfilme wie Klebrigkeit oder Öligkeit.

Die Handhabung von Objekten motiviert die Alltagssprache

Ebenso wichtig sind die Tasteindrücke der Füße bei der Fortbewegung und die der Mundorgane bei der Nahrungsaufnahme. Noch weniger beachtet wird der Tastsinn unserer Kehrseite, obwohl er etwa schnell und verärgert auf splitterige Holzsitze reagiert.

Diese vielfältigen Aufgaben des Tastsinns spiegeln sich in zahlreichen Redewendungen wider. Deren Untersuchung belegt unter anderem, dass die Handhabung von Objekten vielfältige begriffliche Abbildungen unserer Alltagssprache motiviert: Wir „wälzen“ Probleme, „kramen“ in Erinnerungen und „feilen“ an Texten. Sehr ergiebig ist die Untersuchung von Berichten zur gegenwärtigen Finanzkrise, denn dort werden ständig irgendwo „Finanzpakete geschnürt“, „Rettungsschirme aufgespannt“, „Banken abgewickelt“, „Lasten gemeinsam geschultert“, „Ausgaben gedeckelt“, „Milliardenlöcher gestopft“, „Schuldenbremsen angezogen“, „Geldströme in Pleiteländer gepumpt“, „Steueroasen trockengelegt“ und „Konten eingefroren“.

Abstrakte Zusammenhänge anschaulich machen

Ganz offensichtlich sind solche Wendungen nicht wörtlich gemeint, sondern sollen abstrakte Zusammenhänge anschaulich machen, indem man sie mit konkreten und allgemein bekannten Handlungen vergleicht. Der linguistische Fachausdruck „Metapher“ bedeutet wörtlich „Übertragung“ und bezieht sich auf die Tatsache, dass der betreffende Ausdruck von seinem konkreten Ursprungsbereich auf einen abstrakten Zielbereich übertragen wird. Wer etwa „ein Paket schnürt“, will seinen Inhalt irgendwohin schicken, und ein „Finanzpaket“ wird darum wohl Geld enthalten. Wir wissen jedoch, dass diese Redewendung nur ein grobes Modell der Tatsachen ist, denn bei internationalen Transaktionen sind keine Pappkartons voller Münzen und Scheine unterwegs.

Es geht um den Kern der Sache, Einzelheiten bleiben unbestimmt

Oft bleibt sogar unklar, von welchem Ursprungsbereich man ausgeht. Wenn man die Wendung „Milliardenlöcher stopfen“ prägt, denkt man dann an eine Socken stopfende Hausfrau oder an einen Klempner, der undichte Wasserrohre repariert? In beiden Fällen jedoch sind Löcher etwas, das Schaden anrichten kann, von selbst größer wird und daher unverzüglich beseitigt werden sollte. Meist geht also nur um diesen Kern der Sache und die Einzelheiten bleiben unbestimmt.

Schmerzempfindungen sind besonders auffällig

Die Untersuchung solcher Wendungen vermag zu erhellen, wie wir unsere Umwelt begrifflich gliedern, um sie besser zu verstehen. Hierbei bietet es sich an, zwischen subjekt- und objektseitigen Aspekten zu unterscheiden. Ein erster Bereich sind passive Wahrnehmungen, von denen die Schmerzempfindungen besonders auffällig sind und uns vor Gefahren warnen. In Übertragungen haben wir so manchen „wunden Punkt“, machen aber selbst gern „ätzende Bemerkungen“. Ganz ähnlich gehen Vibrationen in die Metaphorik ein, wenn wir „feinste Schwingungen auffangen“ oder „erschütternde Nachrichten“ erhalten.

Bei Berührungen zwischen Lebewesen kommen alle Körperteile zum Einsatz und ihre Bandbreite reicht vom liebevollen Streicheln über den aufmunternden Schulterklaps bis zum aggressiven Rempeln und Treten. Sogar den Blick fassen wir oft wie eine Berührung auf, denn er kann „bohrend“, „stechend“ oder „herzversengend“ sein.

Der Umgang mit Objekten beginnt mit dem Erblicken

Der Umgang mit Objekten beginnt mit ihrem Erblicken und führt weiter über das Ergreifen und Handhaben bis zum Wieder-Loslassen. Je gebräuchlicher ein Werkzeug ist, desto häufiger wird seine Handhabung in abstrakte Bereiche übertragen: Wir ärgern uns über „Holzhammerargumente“, „sägen an jemandes Stuhl“, „nehmen einen Gegner in die Zange“, „sondieren die Lage“ oder „sitzen am längeren Hebel“. Ferner zeigt es sich, dass alte Tätigkeiten und Handwerke besonders fruchtbar sind. So beziehen wir uns auf die Jagd, wenn wir „ein Thema einkreisen“, „jemanden ködern“ oder „treffende Argumente“ verwenden. Die Landwirtschaft wird „fruchtbar“ (!) übertragen, wenn wir „ein Thema beackern“, „Zweifel säen“ oder „peinliche Tatsachen unterpflügen“. Die Textilherstellung als weitere frühe Kulturtechnik liefert griffige Wendungen wie „Kontakte knüpfen“, „etwas einfädeln“ und „soziale Netzwerke“. Sogar das oft geforderte „vernetzte Denken“ und das „Internet“ stehen noch in Beziehung zum traditionellen Knüpfen und Weben.

"Scharfsinn" und "Stumpfsinn"

Aufseiten der Objekte gehen zahlreiche fühlbare Merkmale in Redewendungen ein. Im Hinblick auf das Gewicht finden wir „kinderleichte Aufgaben“ ebenso wie „schwere Vorwürfe“. Bei der Härte sind die Extreme meist negativ besetzt, man denke an „verhärtete Fronten“ und „pflaumenweiche Argumente“. Dazwischen liegt die meist wünschenswerte Festigkeit, denn ein „fester Händedruck“ ist ebenso angenehm wie ein „festes Versprechen“. Weitere Materialaspekte sind Elastizität („dehnbarer Begriff“), Dichte („durchlässige Studiengänge“) und Haltbarkeit („unverbrüchliche Treue“). Ecken und Kanten motivieren eine Skala zwischen „Scharfsinn“ und „Stumpfsinn“. Eine auffällige Oberflächeneigenschaft ist die Glätte. Während „griffige Formulierungen“ das Verstehen erleichtern, gelten Extreme wie ein „aalglatter Charakter“ und „schroffe Worte“ wieder als unbeliebt.

Der Kontext entscheidet, ob ein Merkmal erwünscht ist

Oberflächenfilme können Objekte feucht, glitschig, klebrig, staubig oder schmierig machen. Der Kontext entscheidet, ob ein Merkmal erwünscht oder unerwünscht ist. Haftzettel sollen klebrig sein, Tischplatten hingegen nicht. „Saftige Witze“ hören wir lieber als „staubtrockene Vorträge“, und „saubere Lösungen“ sind einem „Griff ins Klo“ deutlich vorzuziehen.

Bei den Temperaturmetaphern besteht eine klare Skala von „kalt“ über „kühl“ und „lau“ bis zu „warm“ und „heiß“. Physikalische Kälte ist oft lebensfeindlich, und auch „eiskalte Blicke“ lassen uns „erstarren“. Gedanken werden mit Kühle, Gefühle mit Hitze assoziiert, sodass ein „kühler Kopf“ oft mit den „Flammen der Leidenschaft“ kämpfen muss. Auch hier tauchen alle Lebensbereiche auf; wir können „auf Sparflamme arbeiten“ und uns dennoch „die Köpfe heißreden“.

Der Weg zum Begreifen führt über das Greifen

Eine Zusammenschau dieser gut motivierten Wendungen vermag die Freude am treffenden Ausdruck zu fördern. Man staunt immer wieder, wie kreativ Menschen unterschiedlichste Bilder für ihre Zwecke einsetzen. Will man etwa enge Beziehungen zwischen Einzelheiten ausdrücken, so kann man diese „verflochten“, „verkettet“, „verknüpft“, „verkuppelt“, „vernetzt“, „verquickt“ oder „verzahnt“ nennen. Wer sich lange mit Misserfolgen beschäftigt, „kaut auf Enttäuschungen herum“ oder „suhlt sich in Selbstmitleid“. Oft wird dasselbe Sprachbild sogar auf mehreren Sprachebenen ausgedrückt, sodass für jede Situation eine maßgeschneiderte Formulierung bereitsteht oder eigens geschaffen wird. So liefert die Vorstellung, man könne jemanden durch einen Hitzereiz antreiben, sowohl die neutrale Wendung „jemandem einheizen“ als auch die flapsigere Variante „jemandem Feuer unterm Hintern machen“.

Insgesamt zeigt sich eindrucksvoll, dass auch im Zeitalter immer stärkerer Digitalisierung der Weg weiterhin vom „Greifen“ über das „Begreifen“ zu den „Begriffen“ führt. Schließlich behaupten wir ganz selbstverständlich sogar von unserem Computer, dessen Innenleben wir kaum verstehen, er würde „Daten hin und her schaufeln“.

Die Autorin ist apl. Professorin für Semiotik an der TU Berlin. Soeben erschien von ihr: „Spitze Bemerkungen und schwammige Argumente. Tastsinn und Handhabung in Redewendungen“. Tübingen: Stauffenburg 2015, 24,50 Euro.

Dagmar Schmauks

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